Virtuelles Jerusalem – Faktizität und Fiktion in Visualisierungen der heiligen Stadt
Ein Mann im schwarzen Anzug läuft quer durch einen prächtigen Innenhof. Ungelenk und stockend bewegt er sich über den spiegelnden Marmorboden. Ein anderer, in der Kluft der charedischen Juden, lehnt an einem Springbrunnen. Die geringe Auflösung des Videoclips, die unbeholfenen Animationen und die unnatürliche Glattheit der Materialien offenbaren, dass wir es hier mit einem 3D-Rendering zu tun haben. Was wir sehen, ist jedoch nicht etwa das Modell eines zu errichtenden israelischen Flughafenterminals, sondern ein Entwurf für den Neubau des Jerusalemer Tempels, fast 2.000 Jahre nach dessen Zerstörung durch die Römer. Das Temple Institute of Jerusalem setzt sich seit 1987 für dieses utopische Bauprojekt ein. Von der Terrasse des Besucherzentrums im jüdischen Viertel der Altstadt wäre der Tempel zu sehen. Bislang blickt man von dort nur auf den Gebäudekomplex, der dem Vorhaben im Weg steht: Felsendom und Al-Aqsa Moschee.
In der Dauerausstellung des Instituts präsentiert man die Fortschritte der Wiederherstellung des antiken Tempelkults: Koscheres Öl, zeremonielle Gewänder, Gefäße und Instrumente, die nach den strengen alttestamentarischen Vorgaben gefertigt werden. Den Höhepunkt des Besuchs bilden aber die Computervisualisierungen, die in einem kleinen Vortragssaal auf einer Leinwand gezeigt werden. Hat man zuvor auf die beeindruckende Wirkung einer großzügigen Verwendung von Edelmetallen gesetzt, so werden nun alle Register des multimedialen digitalen Spektakels gezogen. Unter antreibenden Orchesterklängen einer höchstwahrscheinlich gemeinfreien Filmmusik fügen sich Grund- und Aufrisse zu dreidimensionalen Modellen des Heiligtums. Virtuelle Kamerafahrten führen durch die zahlreichen Gänge und Kammern der Anlage. Schwindelerregend ist das auch aufgrund der niedrigen Bildwiederholrate. Schweben wir auf das Allerheiligste zu, beginnt auch das Video ehrfürchtig zu zittern. Der Goldglanz der Wände und bestickten Vorhänge bringt die Rendering-Pipeline an ihre Grenzen. Das religiöse Abbildungsverbot steht und fällt mit der Leistung der Grafikprozessoren.
„This is not a ‚virtual‘ representation, but a portion of a complete and highly detailed architectural plan which has been prepared for the immediate construction“, heißt es in einem Beschreibungstext. Die minimalistische Architektur aus Glas, Stein und Beton steht scheinbar nicht im Widerspruch zu den biblischen Vorgaben. Ganz zum Schluss wird das 3D-Modell endlich im städtebaulichen Kontext präsentiert: In einer einprägsamen Vision des Tempelbergs ist die Baustelle in vollem Gange.
Die Renderings des Temple Institute sind ein Beispiel für ein Genre digitaler Visualisierungen von Jerusalem, das in den letzten Jahren an Bedeutung stark zugenommen hat. Was dort noch ein wenig unbeholfen und mit dem Charme der Windows XP-Ära daherkommt, ist in anderen Projekten auf dem neuesten computergrafischen Stand.
2016 eröffnete direkt neben der Klagemauer „A Look into the Past“, die erste Stadttour durch das antike Jerusalem in Virtual Reality.[1] Mit einem Headset der ersten Generation konnten Besucher*innen in eine historische Interpretation des Jerusalems des ersten Jahrhunderts eintauchen. Seitdem ist aus der bahnbrechenden Idee der virtuellen Pilgerreise/Zeitmaschine eine regelrechte Industrie geworden. Das Tower of David Museum, das Jerusalemer Stadtmuseum, hat – ganz im Geiste der „Start-Up Nation Israel“ – gleich ein Innovation Lab ins Leben gerufen, das Mixed-Reality-Anwendungen für den Tourismus fördert. Man arbeitet daran, religiösen oder archäologischen Stätten ein virtuelles Pendant gegenüberzustellen oder sie vor Ort mit historischem, kontextualisierendem, erklärendem Material zu versehen.
Wer es in Zeiten der Corona-Pandemie nicht ins Heilige Land schafft, kann die Reise nach Jerusalem durch eine ganze Reihe von Apps von Zuhause aus antreten. So lassen sich die Stationen der Via Dolorosa in 360°-Aufnahmen nachpilgern[2] oder in der interaktiven Software „The Holy City“ auf der Suche nach dem gemeinsamen Kern der abrahamitischen Religionen Steck- und Schieberätsel in der Manier von Indiana Jones lösen.[3] Interaktiver, lebendiger, immersiver soll die digitale Bildtechnologie die Jerusalem-Erfahrung machen. Ob im Silicon Valley oder im „Silicon Wadi“ – storytelling ist eines der Schlagwörter der Tech-Welt, doch genau das ist in kaum einem Fall schwieriger als in der Geschichte einer Stadt, die wie kaum eine zweite von Narrativen des Anspruchs überfrachtet ist.
Für ein Forschungsprojekt zu Faktizität und Fiktion in der Visualisierung von Geschichte als Teilprojekt des Schwerpunktprogramms Das Digitale Bild sind die virtuellen Repräsentationen von Jerusalem höchst interessante Objekte, schließlich sind historische Visualisierungen hier aufs Engste in kulturelle und politische Implikationen verstrickt.
Aus der vielseitigen, bisweilen unübersichtlichen Stadtgeschichte greifen sie bestimmte Momente heraus und verleihen ihnen computergenerierte Sichtbarkeit. Soziale, politische und kulturelle Komplexitäten, Diskrepanzen zwischen archäologischen Funden und heiligen Texten können im Sinne des storytellings beiseitegeschoben, beeinflusst, übertüncht werden. Die digitalen Bilder schaffen Eindrücke, die in Komplizenschaft mit Gebietsansprüchen, national-religiösen Großerzählungen und Rechtfertigungsnarrativen stehen. Der Anspruch, Geschichte erlebbarer, greifbarer zu vermitteln, ist in Jerusalem keine Floskel der Kulturinstitutionen, sondern ein Politikum. Digitale Visualisierung ist hier Dual-Use Technologie.
Dies zeigt sich auch am Beispiel der sogenannten Davidsstadt, des am frühesten besiedelten Bezirks Jerusalems. Auch das dortige Besucherzentrum stellt eine Fülle an digitalen Videos, 3D-Renderings, VR-Umgebungen oder interaktiven Karten her, die vor Ort, auf der Website und in den sozialen Medien präsentiert werden. Hier bekommen wir großartige Visionen einer eisenzeitlichen Siedlung gezeigt, in der der biblische König gewandelt haben soll, dessen historische Bedeutung, sogar Existenz in der Forschung dabei alles andere als unumstritten ist.
Wenn in digitalen Montagen die frühzeitlichen Ausdehnungen der Siedlung auf aktuelle Karten und Aufnahmen gelegt werden, wenn virtuelle Judäer ihre Mauern gegen virtuelle Babylonier verteidigen, wird eine Kontinuität suggeriert wo tatsächlich eine an Brüchen nur schwer übertreffbare Stadtgeschichte besteht. Wie die eisenzeitlichen Stadtmauern beanspruchen die digitalen Visualisierungen ein Territorium, trennen ein Innen von einem Außen. Denn die Simulationen und Karten haben einen blinden Fleck, den die Illustrationen und 3D-Modelle ausblenden oder überlagern: Die arabische Nachbarschaft Silwan, die sich heute an diesem Ort befindet.
Luca Beisel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Digitale Vergangenheit – Faktizität und Fiktion in der Visualisierung von Geschichte an der Freien Universität Berlin. Zuvor arbeitete er am Minerva Humanities Center, Tel Aviv University.
[1] https://thekotel.org/en/tours/a-look-into-the-past/
[2] https://www.youvisit.com/tour/100549/132201/
[3] https://store.steampowered.com/app/1364400/The_Holy_City/