Politische Partizipation in Social Media: Memes über das Sondierungsselfie

Politische Partizipation in Social Media: Memes über das Sondierungsselfie

Benutzergenerierte Formen bildförmiger Bildkritik, z. B. Memes, entstehen so dynamisch wie die Artefakte, die sie adaptieren. Bearbeiten, beschriften und andere Bildpraktiken laden die Artefakte mit neuem kommunikativen Gehalt auf. Digitale Bilder, die auf Social Media veröffentlicht werden, sind sowohl auf formaler Ebene als auch im Hinblick auf den Publikationsort bereits kommunikativ geladen. Wer diese Bilder betrachtet, liest die Bilder und entschlüsselt nach Semiopragmatik ihre Leseanweisungen.

Politische Bilder, insbesondere Selfies von Politiker:innen, vermitteln Usern, man könne durch das reine Zusehen tatsächlich an „Macht und Ressourcen“ (Wenk und Schade 105) teilhaben. Diese suggerierte niedrige Schwelle wird auch durch die Plattform bedient, auf der das Selfie publiziert wurde. Vermeintliche Teilhabe an der Politik, die mit einem Posting betrieben wird, fängt somit an beim Liken, Folgen, Kommentieren und Speichern.

Darüber hinaus gehen das Adaptieren und Bearbeiten der digitalen Bilder – zentrale Eigenschaften des Memeing. Aufrufe wie „Caption this“ sind hier eine gängige Art der Handlungsaufforderung. Was von den einst taktierten Leseanweisungen eines politischen Bildes durch das Produzieren einer humoristischen Adaption übrig bleibt, lässt sich an der Vielzahl im Internet kursierender sichtbar gewordenen Rezeptionen ablesen. Eine Analyse der humoristischen Adaptionen des Artefakts machen methodisch die Prozesshaftigkeit des Memeing greifbar: ein Bild entsteht, das Bild wird rezipiert, Handlungsräume öffnen sich, ein neues Bild wird geschaffen, das neue Bild wird  interpretiert usw. usf. Um benutzergenerierte Formen bildförmiger Bildkritik in ihre Bestandteile zu zerlegen und Leseanweisungen herauszufiltern, muss die praktische Prozesshaftigkeit des Memeing in Betracht gezogen werden.

Das Sondierungsselfie von FDP und Grünen

Ein jüngst publiziertes Beispiel politischer Bildkommunikation stellt das Selfie von Robert Habeck, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Volker Wissing dar. Am 28.09.2021 entsteht das Artefakt in Form von vier unterschiedlich bearbeiteten Versionen auf den Instagram-Accounts der Politiker:innen, vereint durch dieselbe Bildbeschreibung: „Auf der Suche nach einer neuen Regierung loten wir Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes aus. Und finden sogar welche. Spannende Zeiten.“

Der Moment des Posierens, des unbefangenen Lächelns für die Kamera, erzeugt eine Ästhetik, die wirkungsvoll Nähe und Intimität vermitteln soll. Auf dieser intimen Ebene sollen die abgebildeten Personen als eine Einheit wahrgenommen werden. Die Bildunterschrift ist eindeutig: Die Gruppe, die das Foto abbildet, ist heterogen, aber agiert trotz politischer Uneinigkeiten als eine Einheit.

Ein neuer semantischer Frame

Einen Tag dauert es, bis Userin Amalie Marie Göltenboth (@amsterdamalie) das Bild rezipiert und die Handlungsräume genutzt hat, um das Bild zu rekontextualisieren. Goeltenboth fügt dem Selfie eine neue Bildüberschrift hinzu: „Ihr Lieben, Papa und Mama sind gut auf Sizilien angekommen. Am Hotelsempfang haben wir direkt ein wahnsinnig nettes Paar aus Berlin kennengelernt – zwei Männer!! Ist ja heutzutage zum Glück normal. 🌈 Gleich gehen wir gemeinsam zum Krimidinner. Deswegen so schick 😉“.

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Für Memes in Form von sogenannten Image Macros, die auf dem Micro-Blogging Dienst Twitter zirkulieren, gilt, dass der obere, sprachliche Teil als Setup und der untere, visuelle Teil als Punchline fungiert. Die Punchline wird nicht durch eine weitere schriftliche Komponente erzeugt, sondern durch die visuellen Leseanweisungen eines Bildes. So verhält es sich auch in dem Posting von Gölthenboth. Da das Foto unbearbeitet weiterverwendet wurde, bleiben die rein visuellen Komponenten gleich. Jedoch kollidiert nun die textliche Komponente des Bildes mit dem kommunikativen Gehalt des ursprünglichen Postings.

Der Text, der durch die Formatierung der Plattform Twitter zuerst wahrgenommen wird, setzt nun einen neuen semantischen Frame:

  • Ihr Lieben“ spricht die Leserschaft direkt an. Die Formulierung, insbesondere das Wort „Lieben“, setzt bereits einen Ton, der suggeriert, dass sich diese Nachricht an vertraute Personen richtet. Wie es beispielsweise in Instant-Messaging-Diensten wie Whatsapp der Fall ist.
  • Papa und Mama sind gut auf Sizilien angekommen“ suggeriert, dass es sich um eine (fiktive) Nachricht aus dem Urlaub zweier Elternteile handelt – mit „Mama“ wird Annalena Baerbock und mit „Papa“ könnte eine der männlich gelesenen Personen gemeint sein.
  • Am Hotelsempfang haben wir direkt ein wahnsinnig nettes Paar aus Berlin kennengelernt – zwei Männer!!“ Bei dem „netten Paar“ könnte es sich um Robert Habeck und Christian Lindner handeln, da die beiden nah beieinanderstehen. Nach dieser Logik bestehen die „Eltern“ aus Annalena Baerbock und Volker Wissing. Eine Antwort auf Goeltenboths Tweet impliziert des Weiteren, dass die Verwendung von zwei aufeinanderfolgenden Ausrufezeichen den Satz besonders pointieren. So mag das Verwenden von doppelten Ausrufezeichen für die Stereotype des Boomers eine besonders gängige Medienpraxis sein.
  • Ist ja heutzutage zum Glück normal. 🌈“An dieser Stelle spitzt sich das Narrativ deutlich zu. Die im Internet oftmals verspottete „Boomer-Manier“ findet auch in diesem Meme einen Platz. Hier wird auf stereotypische Denkmuster älterer Generationen angespielt, die die junge, moderne Generation Z längst abgelegt hat. Dies wird durch die Benutzung des Regenbogen-Emojis verdeutlicht. Jüngeren Generationen dürfte mittlerweile klar sein, dass das Unicode-Konsortium längst eine Flagge in den Unicode-Standard eingeführt hat, die LGBTQ+ Personen repräsentiert. Das scheinen die abgebildeten Personen, von denen einer oder eine den Text verfasst haben soll, in dieser Narration nicht zu wissen.
  • Gleich gehen wir gemeinsam zum Krimidinner. Deswegen so schick 😉“ Auch hier passt die Aussage aus dem textlichen Setup nicht ganz zur visuellen Punchline. Die abgebildeten Personen sind vielmehr unauffällig und neutral gekleidet. Der augenzwinkernde Emoji rundet die „Nachricht“ schließlich ab.

Es wird deutlich, dass der semantische Frame aus dem textlichen Part des Memes neue Erwartungen an das untenstehende Bild setzt. Die Dissonanz zwischen dem geöffneten Frame und den abgebildeten Personen ebnet in diesem Fall den Raum für Humor. Der Text und der – mehr oder weniger falsch gebrauchte – Emoji besetzen die Identität der Politiker:innen neu. So handelt es sich nicht mehr um Personen mit Macht in der deutschen Politik, sondern um vermeintliche Privatpersonen, die eine unbedarfte private Nachricht an ihre „Lieben“ schicken.

Die Bildüberschrift formt das Setting für eine Narration, die das dem Selfie innewohnende Konzept von Nahbarkeit und Intimität neu besetzt und parodiert. Die Gruppe wird nun nicht mehr als politische Einheit gelesen, die trotz Verschiedenheiten zusammen agiert und den Rezipierenden des Bildes besonders nahesteht. Das Meme spinnt die Wirkung des Selfies weiter und versetzt Rezipierende in eine Beziehung zu den abgebildeten Personen. Die Kombination aus Setup und Punchline könnte auf eine Differenz anspielen, die sich zwischen Generation Y, Generation Z und der Generation der Baby-Boomer abspielt. Per Definition entspricht keine der vier Personen der Generation Baby-Boomer, der signifikante Altersunterschied zwischen Meme-Praktizierenden und den Politiker:innen ist jedoch in diesem Falle vergleichbar. Auch Personen der Generation X angehörend werden durchaus mit der Stereotype belegt. Da die Meme Kultur hauptsächlich mit der Gen Y und Gen Z in Verbindung gebracht wird, liegt es nahe, dass sich auch hier über die ältere Generation lustig gemacht wird.

Auf diese Art und Weise wird von der öffentlichen Wirksamkeit und der exekutiven Macht der abgebildeten Personen abgelenkt und die Ebene des Humors eröffnet. Umgekehrt könnte die These lauten, dass hier Humor erzeugt wird, um Machtverhältnisse zu relativieren und zu hinterfragen. Simon Moebius geht davon aus, „dass Humor als zentraler Signifikanzgeber fungiert“ (19) und dass das „Spielen mit Sinninhalten und durch die Distanzierung zu Wirklichkeitskonstruktionen einen alternativen Blickwinkel auf Sinninhalte ermöglichen kann“ (ebd.). Die eigentliche Botschaft wird entrückt und das Bild wird instrumentalisiert. In Memes kommen Stereotypen nach Moebius eine zentrale Rolle zu. Es liege in der Natur von Stereotypen, Sachverhalte durch die Darstellung „institutionell verankerter Zuschreibungen“ einseitig zu Überspitzen (ebd. 5). Demnach ist der spielerische Umgang mit Stereotypen ein effektives Mittel, um zu einem hohen Wiedererkennungswert und einer starken Einprägsamkeit zu gelangen.

Die humoristische Darstellung der Stereotype der älteren Generation, des „Boomers“, der eine unbedarfte Nachricht an seine „Lieben“ schickt, in Kombination mit dem Selfie der vier Politiker:innen verleihen dem Meme einen vielschichtigen, kommunikativen Gehalt. Als Politiker:in mit einem gewissen Status und öffentlicher Wirkung wäre eine derartige Offenbarung des Privatlebens durchaus an schwerwiegende Folgen gekoppelt.

Visuelle Modifikationen

Auch das zweite Beispiel zeichnet sich aufgrund der von Twitter vorgegebenen Formatierung durch eine Variation von Text in der oberen Hälfte und einer visuellen Komponente in der unteren Hälfte des Postings aus. Für die visuelle Komponente seines Tweets nutzt Markus Schade eine bearbeitete Version des Selfies. Hier wurde offenbar wieder mit der von Robert Habeck geposteten Version gearbeitet. Die Gesichter der vier Politiker:innen wurden mittels FaceApp, die auf der Basis von künstlicher Intelligenz funktioniert und so realistisch anmutende Umformungen menschlicher Gesichter generieren kann, glatter und jünger bearbeitet.

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Im Hinblick auf die Syntax des ursprünglichen Selfies, lässt sich auch hier trotz der beschriebenen digitalen Bildbearbeitung kaum eine Veränderung feststellen. Die These lautet hier, dass das Bild zwar äußerst fotorealistisch modifiziert wurde, dennoch genug restliche Übereinstimmungen mit dem Original beibehalten wurden, sodass definitiv genug Raum für das Bewusstsein über die digitale Bildbearbeitung besteht. Nichtsdestotrotz lässt sich die These, dass sich die Interpretation mit Veränderung des Bildes verändert, uneingeschränkt auf die Wahrnehmung des Memes anwenden. Auch hier ist davon auszugehen, dass die Bildüberschrift im sprachlichen Teil des Memes als Setup einen neuen semantischen Frame setzt. Die Rahmung durch den Text „FDP und Grüne der jungen Wählerschaft angepasst“ schärft den Blick für eine Modifizierung im darauffolgenden visuellen Part des Posts.

Der sprachliche, aufbauende und rahmende Part des Memes setzt einen klaren Spielraum für den kommunikativen Gehalt des Bildes. Sowohl dem Text als auch dem Bild wohnt jedoch ein ausgeprägter selbstreflexiver Charakter inne, der die Praxis hinter der Entstehung des Bildes für die Rezipierenden des Memes offenlegt.

Die Gruppe wird durch den semantischen Frame trotz der fotorealistischen Bearbeitung als politische Einheit gelesen. Möglicherweise festigt die Bearbeitung gar die Wahrnehmung der Gruppe als politische Einheit, da die Bearbeitung sie auf ihre gemeinsame junge Wählerschaft reduziert. Da es sich bei diesem Meme ebenfalls um die sichtbar gewordene Rezeption des Selfies handelt, lässt sich auch hier eine Illokution in Form einer Kritik ablesen: Dass Politiker:innen aus „älteren“ Generationen nun auch an Praktiken am jungen Medium Social Media teilhaben, ist ungewöhnlich. Klar ist, dass die FDP und die Grünen eine junge Wählerschaft zu bedienen haben und hier der Grund für die Platzierung des Selfies liegen könnte. Im Rahmen dieser Dynamik kann durch die Verjüngung oder gar Infantilisierung der Politiker:innen mittels digitaler Bildbearbeitung, diese durchdachte Strategie offengelegt und überspitzt dargestellt werden. In dieser Interpretation der Kritik könnte die Illokution lauten: „Ihr könnt an dieser Internet-Praxis mit eurem Selfie nicht teilhaben, da man eure Gesichter erst bearbeiten muss, bis jene Teilhabe tatsächlich authentisch wirkt.

Räume der politischen Partizipation

Auf den ersten Blick zeigen beide Memes, wie unterschiedlich die sichtbar gewordenen Formen der Rezeption eines Bildes ausfallen können. Beide Memes setzen jedoch im Kern ähnliche Kritiken um, die sich aus den jeweils analysierten Leseanweisungen ergeben.

Die Memes von Goeltenboth und Schade sind gleichermaßen „modes of expression and public discussion“ (Shifman 123). Sie partizipieren an Politik, indem sie zugänglich und unterhaltsam eine Kritik äußern (vgl. ebd.). Sie zeigen außerdem, dass an Politik teilhabende Menschen ein Bewusstsein für den strategischen Einsatz von Social Media durch Politiker:innen haben: „By manipulating political photos, users signal that they are aware of the artificial construction of images and that they can create competing (and somewhat less flattering) images themselves” (Shifman 143).

Dieses Bewusstsein spiegelt sich auch in der Retweet-Sektion unter den beiden Memes wider. Für Meme A wird hier beispielsweise das Narrativ weitergesponnen. Beispielhaft hierfür gilt der Kommentar der User „Julimond“ (@TeilzeitTippse), der das gleichgeschlechtliche Ehepaar zusätzlich in die Stereotype der Investment-Experten rückt. Der Letzte Satz Bussi und geht mal wieder mit dem Hund!fügt sich in das von Goeltenboth gezeichnete Bild der Eltern, die eine unbedarfte Nachricht an ihre „Lieben“ schicken, ein.

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Um die Frage zu beantworten, wie das Sondierungsselfie Räume der politischen Partizipation geöffnet hat, lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Suggestionen von Intimität und Nahbarkeit, die sich über mehrere Ebenen des Entstehungsprozesses erstrecken, ausschlaggebend für das Öffnen von Räumen für politische Partizipation waren. Sowohl das Format des Selfies als auch die Distributions-Plattform trugen dazu bei, dass ein praktischer Bezug zur Internet-Kultur und somit eine niedrige Schwelle zwischen Exekutive und politisch partizipierenden Personen in Social Media geschaffen werden konnte. Der kommunikative Inhalt des Selfies ist leicht lesbar, syntaktisch simpel aufbereitet und schafft es somit, auch auf inhaltlicher Ebene besagte niedrige Schwelle zu bedienen.

Das Beispiel des Selfies und die Reaktionen darauf zeigen jedoch, dass politische Partizipation über sogenannten ‚Slacktivism‘ oder ‚Klicktivismus‘ hinaus gehen kann. Mit der Platzierung des Selfies wurde ein privater Moment zwischen den Zeichenverwendern geschaffen, der auch in der darauffolgenden Meme-Praktik aufgegriffen und vor allem: neu besetzt wurde. Die herausgearbeiteten Leseanweisungen der Memes zeigen, dass die Kritik, die hier geübt wird, einprägsamer und wirksamer ist als „das bloße Weiterleiten von Informationen“ (Schmidt 102). So suggeriert die Platzierung des Selfies bloß ein Garant für die Teilhabe an Macht und Ressourcen zu sein – die Meme-Praktik beweist, dass politische Teilhabe auf diesem Wege tatsächlich möglich ist. Hierin liegt das Spannungsverhältnis, das gefestigte Machtverhältnisse infrage stellt. Die Memes über das Sondierungsselfie zeigen, dass ein Bewusstsein für die Konstruiertheit des Selfies und das damit einhergehende politische Narrativ besteht.

Eine besonders rasche Verbreitung allein sorgt, wie das Beispiel zeigt, nicht zwingend dafür, dass sich kritische Memes weiterentwickeln. Die Sondierungsselfies sind so rasch und unverhofft entstanden, wie sie auch wieder von der Bildfläche verschwunden. Ob das Bild im Rahmen des Memeing erneut aufgenommen wird, ist maßgeblich von den soziokulturellen Umständen abhängig, die die zukünftige Amtszeit der Ampel-Regierung noch bereithält.


Marie Baab, B. A. ist studentische Hilfskraft im DFG-Forschungsprojekt Bildförmige Bildkritik in Sozialen Medien. Explizites und implizites Theoretisieren des digitalen Bildes. Sie studierte Medienwissenschaft an der der Philipps-Universität Marburg. Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung ihrer Bachelorarbeit mit dem Titel “Politische Partizipation in Social Media: Memes über das Sondierungsselfie”.