Pandemische Fotografie – Wie Covid19 die journalistische Bildkommunikation verändert. Eine Rezension
Das mit dem World Press Photo Award in der Kategorie „General News“ ausgezeichnete Bild von Joshua Irwandi zeigt die Leiche eines mutmaßlich an Covid19 Verstorbenem in einem indonesischen Krankenhaus. Der in Plastik eingewickelte Körper nimmt das komplette Bild ein. „Doch trotz der räumlichen Nähe, die die Betrachtenden der Leiche einnehmen, vermittelt die Fotografie eine Ambivalenz von nah und fern, vertraut und fremd, menschlich und entmenschlicht“, kommentiert Karen Fromm in ihrem Beitrag für den Sammelband „Corona und die journalistische Bildkommunikation (S. 72).
In ihrem Essay „Leeres Zentrum – periphere Bilder. Die visuelle Berichterstattung zur Coronapandemie“ setzt sich die Professorin für dokumentarische Fotografie an der Hochschule Hannover mit der Bildsprache der Pandemie auseinander. Anhand der internationalen Bildberichterstattung in der Presse erarbeitet Fromm Charakteristika der fotojournalistischen Darstellung der Pandemie. Ausgehend vom fehlenden Bildsubjekt, da der Virus an sich nicht fotografiert werden kann, diskutiert sie die ikonischen Darstellungen von vergangenen Krisen und stellt verschiedene Arten vor, wie die Presse dennoch die Pandemie darzustellen versucht.
Durch die umfassende Auseinandersetzung mit der journalistischen Bildkommunikation über die Pandemie, beschreibt Fromm Phänomena, die einzigartig für diese Zeit sind. Die Lesenden werden anhand von Beispielen an die Besonderheiten der Bildsprache herangeführt und die darauf aufbauende Diskussion vermittelt, welche Überlegungen erfolgen müssen, um die politische Wirkung der Bilder nicht außer Acht zu lassen. So wird den Lesenden anhand von Bildern der unterschiedliche Umgang der Darstellung von Corona in verschiedenen Kulturkreisen gezeigt und auch begründet, warum zum Beispiel die Bilder aus Bergamo von Fabio Bucciarelli zu Beginn der Pandemie „vor allem als Ausdruck der Krise in Italien rezipiert“ (S. 65) wurden. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Bilder war Covid19 gerade erst von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Pandemie deklariert worden und wurde immer noch als lokale Krise wahrgenommen. Die Bilder zeigen Interieure der Privaträume der Betroffenen, durch welche die Aufnahmen lokalisiert werden konnten. Somit entsprachen die Bilder „einem Topos, der sich als charakteristisch für die Tradition der Krisenberichterstattung herauskristallisiert hat, die eher die Krise der Anderen als die eigene zeigt.” (ebd.)
Fromms Text ist Teil des Sammelbandes „Corona und die journalistische Bildkommunikation – Praktiken und Diskurse des Visuellen“, der von Felix Koltermann herausgegeben wurde. Er lehrt zusammen mit den anderen Autor*innen des Bandes am Studiengang „Fotojournalismus und Dokumentarfotografie“ an der Hochschule Hannover. Zudem forscht er zu bildredaktionellen Praktiken im digitalen Zeitungsjournalismus in seinem Postdoc-Projekt.
Der Band diskutiert aus der Sicht der Medienökonomie sowie der Kunst- und Kommunikationswissenschaften den Einfluss der Corona-Pandemie auf die journalistische Bildkommunikation. Die sechs Beiträge untersuchen die Veränderungen im digitalen Bildjournalismus aus unterschiedlichen Perspektiven und bieten den Lesenden so einen Blick hinter die Kulissen der journalistischen Bildkommunikation und der Arbeit von Bildredakteur*innen, Fotojournalist*innen und Datenjournalist*innen. Damit bringt der Sammelband die akademische Literatur über Fotojournalismus auf den aktuellen Stand und ist Vorreiter in der Auseinandersetzung mit pandemischer Bildkommunikation. Durch eine Mischung aus Interviews und Essays entsteht eine Balance zwischen theoretischen Abhandlungen und Einblicken in die Praxis. Positiv fällt auf, dass es sich nicht wie bei Veröffentlichungen der vergangenen Jahre nur um männliche Autoren handelt, sondern zwei der fünf Beitragenden weiblich sind. Das Essay von Professor Lars Bauernschmitt führt in die medienökonomischen Auswirkungen der Pandemie auf die deutschsprachige Fotobranche ein. Der ehemalige Geschäftsführer der Fotoagentur VISUM und Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes der Pressebild-Agenturen und Bildarchive stellt dabei zunächst den allgemeinen deutschsprachigen Bildmarkt vor und setzt sich dann aufgrund einer Befragung, die er mit Fotograf*innen sowie Mirarbeitenden Fotoagenturen durchführte, mit den Auswirkungen der Pandemie auf deren Arbeit auseinander. Dieser Text dient zur Schaffung einer Wissensgrundlage vom aktuellen Stand der Branche. Leider gehen die Erkenntnisse in der Fülle der gewonnenen Zahlen unter. Durch die vielen Bezüge zu verschiedenen Zusammenschlüssen und teilweise ungenauen Formulierungen fällt es schwer, sich unter diesen Zahlen etwas vorzustellen: „Während nur 20,9 Prozent der befragten Fotojournalist*innen erklärten, sich mit dem Thema Coronapandemie bis Februar 2020 nicht auseinandergesetzt zu haben, und dies auch für die Zukunft nicht überlegten, waren das unter den übrigen Befragten 38,8 Prozent.“ (S. 24) Somit fängt der Band leider mit dem schwächsten Text an.
Einen ganz anderen Eindruck macht das drauffolgende Interview von Felix Koltermann mit dem Fotografen Christian Mang. Es gibt einen sehr lebhaften Einblick in die tägliche Arbeit dieses Fotojournalisten und verdeutlicht, wie Corona diese auch auf lange Sicht verändern wird. Dabei thematisieren Koltermann und Mang nicht nur die durch Corona geforderte Distanz und Pressefeindlichkeit, die besonders bei Demonstrationen deutlich wurden, sondern auch die Spätfolgen der Pandemie auf die Einkünfte aus Archivverkäufen und geben dem Lesenden so einen weitreichenden Einblick in diese Praxis. „Mittlerweile ist es ja wirklich so, dass man bei bestimmten Veranstaltungen unabhängig vom Medium, für das man arbeitet, per se als Feind*in eingeordnet wird. […] Journalist*innen werden nicht mehr als Teil des demokratischen Meinungsbildungsprozesses und einer pluralistischen Medienlandschaft, in der auch unterschiedliche Meinungen ihren Platz haben müssen, sondern als zu bekämpfende Gegner*innen betrachtet“, berichtet Christian Mang (S. 45). „Und dann gibt es unzählige Beispiele von Großdemonstrationen, aber auch anderen Events wie z. B. das Public Viewing zur EM, die nicht mehr stattfinden. Das sind vor allem Bilder, von denen ich zwar aktuell vielleicht nur ein paar veröffentliche, die sich aber im Archiv über die Jahre recht gut verkaufen. Da kann ich jetzt noch gar nicht abschätzen, was Corona für eine Lücke in meinem Archiv hinterlässt und was mir die nächsten Jahre an Archivverkäufen fehlen wird.“ (S. 41) In diesem Zuge wird auch die sogenannte „mfm-Liste“ (S. 37) erwähnt, bei der es sich um eine Liste der jährlich aktuell ermittelten Honorarhöhe für Fotonutzungen von der Mittelstandsgemeinschaft Foto-Marketing – MFM – handelt. Scheint sie Interessierten bekannt zu sein, so handelt es sich doch um Fachwissen, welches Einsteiger*innen in das Thema erschwert, den Kontext ohne Vorwissen zu erschließen. Da die MFM auch bereits im Text von Bauernschmitt erwähnt worden ist, bestünde hier die Möglichkeit einer Bezugnahme, um so den Lesenden eine Informationsbrücke zu bauen. Leider offeriert der Sammelband kein Personen- und/oder Sachregister, die einen systematischen Zugriff auf Informationen ermöglicht hätte.
Michael Hauri, Professor für visuellen Journalismus und Digital Storytelling, interviewte Julius Troger, Head of Visual Journalism von Zeit Online, in einem weiteren Beitrag des Sammelbandes (S. 81 ff.). Auch er erzählt aus seinem Arbeitsalltag und gibt dadurch einen interessanten Einblick in die Datenvisualisierung, die die Zeit Online zur Primärquelle für Zahlen zu Covid19 macht (S. 91). Weiterhin hat Herausgeber Koltermann eine Interviewstudie über die digitale Arbeit während der Pandemie beigesteuert („Bildredaktionelle Arbeit im Homeoffice während der Coronapandemie“, S. 97ff.), und die Bildwissenschaftlerin Anna Stemmler formulierte einen Essay über fotografisches Dokumentieren in der Corona-Krise (S. 121ff.).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass jeder der sechs Texte eine andere Facette der journalistischen Bildkommunikation während der Corona-Krise abbildet und dadurch einen umfangreichen Einblick in bisherige Veränderungen durch die Pandemie gibt. Der Aufbau des Bandes zeigt, dass der Herausgeber sich ein Konzept überlegt hat, um den Lesenden einen auf Zahlen fundierten Überblick zu verschaffen, der nicht nur die wissenschaftliche Interpretation des Bildmarktes darstellt, sondern auch klaren Praxisbezug hat. Beide erwähnten Interviews geben direkten Einblick in die Arbeit der Befragten, indem sie die konkreten Veränderungen ihrer Arbeit durch Covid19 benennen. Der Sammelband „Corona und die journalistische Bildkommunikation“ hält, was er im Untertitel verspricht. Er eignet sich deshalb als Lektüre sowohl für Menschen, die sich mit dem Thema Bildjournalismus noch nicht umfassend beschäftigt haben als auch für erfahrene Beobachter*innen oder Teilnehmer*innen der Branche.
Quellenangabe: Koltermann, Felix (Hrsg.): Corona und die journalistische Bildkommunikation. Praktiken und Diskurse des Visuellen, Baden-Baden, Nomos, 2021.
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