Die Social Camera als Co-Autorin des Lebens
Rezension zu Nathan Jurgenson: The Social Photo. On Photography and Social Media, London/New York: Verso 2019, 136 S., ISBN 978-1-78663-545-7, EUR 14,99.
Nathan Jurgenson geht in The Social Photo. On Photography and Social Media der Frage nach, was ‚social photography‘ ist. In drei Kapiteln widmet er sich „Documentary Vision“, „Real Life“ und einem Schlussteil zum hochaktuellen Format des social video als Format der Zukunft. Im ersten Kapitel führt Jurgenson Fotogeschichte und -gegenwart zusammen und entwickelt darüber Analogien als Fundament für seine weitere Argumentation. Jurgenson schreibt dezidiert nicht über Fotos in sozialen Medien, sondern definiert Fotografie selbst als social photography. Der Begriff social photo beschreibt Fotografie – früher ein haptisches „stand-alone media object“ (S. 8) – als nunmehr fluide und ephemer. Die herkömmliche Trennung zwischen Profifotografen und Amateur sieht Jurgenson damit weitgehend aufgehoben (S. 8). Fotografie sei vielmehr eine kulturelle Alltagspraxis geworden, die den Blick und das Fotografieren als Dokumentation eines Momentes verstünde: „Whether or not one is literally recording a moment, the effect of the social photo conditions how one experiences the world, how one recognizes instances within it as significant or meaningful or funny or important or worthy. […] The social photo initiates a process of documenting life so that you know how to see life when away from the screen.“ (S. 28). Selbstkritisch merkt Jurgenson an, dass die Fotografie grundsozial sei analog zum Begriff der sozialen Medien (S. 8). Für den deutschsprachigen Raum lässt sich der Begriff des social photo dennoch nicht so einfach übertragen, wie es mit social media und sozialen Medien geschah: Zu ähnlich klingen ‚soziales Foto‘ und Sozialfotografie – letztere fokussiert bekanntlich auf marginalisierte Gruppen, um Aufmerksamkeit für diese und eine Verbesserung ihrer Situation zu schaffen. Jurgensons Begriff aber beschreibt das Foto, das vernetzt ist und vielfach Alltagssituationen zeigt, als Kommunikationseinheit (S. 9). Am nähsten kommt der Begriff ‚vernetzte Fotos‘ im Deutschen dem, was Jurgenson meint, obwohl er etwas zu neutral klingt.
Jurgenson zieht Parallellen zur Urlaubsfotografie: Der Mensch sei zu einem konstanten Touristen geworden, der immer und überall sein Leben dokumentieren könne („documentable life“, S. 11) und durch dieses Sehen, Fotografieren, Hochladen und Teilen in einem permanenten Erschaffens- und Beurteilungsprozess von neuen Statusmeldungen kreise (vgl. S. 35 f., S. 39, S. 42). Dabei ginge es vor allem um das Teilen von Erfahrungen und Gefühlen (S. 14 f.) oder um das Teilen des Alltäglichen, was sich in der stetigen Verfügbarkeit diverser Foto-Apps spiegelt – damit meint Jurgenson sowohl allgemein die Software, die zu Fotoaufnahmen nötig ist, als auch plattformgebundene „social photography applications“ (S. 20) wie Instagram. Auf dem Smartphone situiert zwischen anderen Apps, seien sie zum Gebrauchsgegenstand und zu einer Funktion unter vielen anderen geworden, die mobile devices bieten: Telefonie, Filmaufnahme und -wiedergabe, Fotografie, Zugang zu diversen Internetplattformen und vieles mehr: „The ‚digital‘ in ‚digital photography‘ clearly refers to this software, so it could correctly be called ‚software assisted photography‘ instead. It is the software that allows photos to be more than they once were.“ (S. 20) Jurgenson erinnert daran, dass die ersten Foto-Apps – sowohl im Logo als auch in den Filterfunktionen – vor allem nostalgisch-anmutende Ästhetik boten und entwickelt aus dieser Beobachtung die Idee, dass ‚social photography‘ immer eine mögliche und zugleich immer schon vergängliche Zukunft mittransportiere. Da soziale Medien weniger als Archiv denn vielmehr als sich ständig ändernder Strom zu verstehen seien, kreierten sie eine Spannung zwischen „experience-for-itself and experience-for-documentation. The tension may reach a breaking point when documentary vision becomes a distraction: where the present cannot be just the present but always instead a future past.“ (S. 48)
Im zweiten Kapitel führt Jurgenson seine Argumentation vor allem aus soziologischer Sicht weiter aus: Sozialtheorie helfe, die Gesellschaft zu sehen, wie sie sich selbst nicht sehen will (S. 54 ff.). Soziale Medien würden diese versteckten Informationen und Daten sichtbar machen – Hierarchien beispielsweise durch Rankings der Follower-Zahlen. Das ‚social photo‘ und speziell das Selfie zeige die individuelle Identitätsarbeit zwischen Authentizität und Performanz, die gesellschaftliche Konventionen herausfordere und immer noch mit Scham und Stigma versucht würde einzuhegen: „Society is more uncomfortable with certain categories of people – youth, women – availing themselves of such agency. Hence, the agency is displaced to apps or devices, and the ‘problem’ can be solved: ‘just put the phone away and everything is fixed’.“ (S. 59) Dass Technologien des Internets nicht antagonistisch zum ‚realen Leben‘ stehen, sondern vielmehr Teil dessen sind, wird aus diesem Beispiel ersichtlich. Jurgenson verweist auf den von ihm geprägten Begriff „digital dualism“ (S. 68). Dieser beschreibt die Tendenz noch immer On- und Offline als distinkt anzusehen. Realität aber sei schon immer mediatisiert gewesen und die Vorstellung nicht-mediatisierter Reinheit ein Mythos: „There was and is no offline.“ Was ‚social photography‘ biete, sei vielmehr ein expliziterer Zugang zu Identitäts-Performances (S. 72 f.) und die pausenlose Anwesenheit eines Publikums: „This can create both an exciting involvement with our moment and the insecurity about being removed from it.“ (S. 85)
Selbstverständlich bezieht sich Jurgenson auf Henri Cartier-Bresson, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Susan Sontag, Harold Garfinkel und John Tagg, um nur einige Klassiker unter mehreren zu nennen; gleichberechtigt diskutiert Jurgenson aber auch wichtige zeitgenössische Autorinnen und Autoren wie José van Dijck, Susan Murray, Nancy Van House und Fred Ritchin. Er verschränkt Fotogeschichte und Theorie-Klassiker so miteinander, dass die Entwicklung der Fotografie zur ‚social photography‘ organisch wirkt und altbekannte Tropen des Endes oder der Bedrohung der Fotografie durch die Thematisierung neuer Technologien entkräftet werden. Es gelingt ihm, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder über das Medium der Fotografie zu verzahnen: „Photography is a metaphor for understanding the politics of social media visibility, privacy, surveillance, and power.“ (S. 111) Medien und Körper, Menschen und Maschinen seien nicht mehr getrennte Entitäten: „The social photo makes more explicit than ever how we are made of and by images, just as much as they are made of and by us.“ (S. 112)
Nathan Jurgenson arbeitet als Soziologe bei Snap Inc., der Firma, die den Instant-Messaging-Dienst Snapchat entwickelt hat. Er hat unter anderem die Fachkonferenz Theorizing the Web mitbegründet sowie den Blog Cyborgology. Aus diesen akademisch-theoretischen und industriell-praktischen Grenzüberschreitungen heraus argumentiert er, und das macht sein Buch spannend. Zu kritisieren wären dennoch etliche Gedankensprünge im Text und die Vermeidung einer Diskussion über die Macht der App-Entwickler, die durch Programmierung, Datenanalyse und damit der Steuerung des Nutzungsverhaltens im untersuchten Themengebiet keine neutralen Positionen einnehmen können. Zwar hat Jurgenson transparent gemacht, dass er absichtlich und bewusst generalisiert, so schreibt er, man müsse seine Argumentation „a bit more grand and less permanent“ verstehen: „My goal here is to provide a way of thinking about things, to sensitize more than convince.“ (S.11) Dennoch geht Jurgenson mit dieser vermeintlich neutralen Haltung nicht weit genug: Es reicht nicht, das ‚social video‘ als nächsten Schritt zu definieren (S. 113 ff.), ohne politisch-ethische Implikationen der Technologie und ihrer gewollten Intransparenz zu diskutieren.
Diese Rezension erschien zuerst in Rundbrief Fotografie, Vol. 27 (2020), No. 1 [N.F. 105], S. 57-58, unter dem Titel “‚Social Photography‘, oder: Erst durch die Kamera erkennen wir uns selbst”.
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