Atlas of Digital Architecture. Zur Rolle des Bildes in der digitalen Architektur – Ein Lesebericht

Atlas of Digital Architecture. Zur Rolle des Bildes in der digitalen Architektur – Ein Lesebericht

Der Titel des Buches, das hier vorgestellt und – aus der Perspektive des SPP-Projektes Architecture Transformed – kommentiert sei, ist Programm. Es handelt sich um ein Kartenwerk im metaphorischen Sinn, eigentlich um ein Lehrbuch.1 Vor allem Studierende der Architektur sollen sich mit Hilfe dieses „set of metaphorical maps“ (S. 31) für ihren weiteren Weg orientieren. 

Die Ausrichtung auf dieses junge, berufsorientierte Publikum ist wesentlich, aber wer immer wissen möchte, in welche Dimensionen Digitalität sich im Architekturbereich ausgedehnt hat und was „Digital Architecture“ heute bedeutet, wird sich mit diesem Kompendium eine klarere Vorstellung des immensen Gebietes erarbeiten können, selbst wenn mit Sicherheit noch mancherlei ‚terrae incognitae‘ verbleiben. Der Band offeriert seinem Anspruch nach ein „conceptual framework“ (S. 33) in der Erläuterung einer Reihe von abgrenzbaren Feldern. 

Ein Lehrbuch

Vor dem Leser liegt zunächst – was angesichts des der Sphäre des Digitalen angehörenden Gegenstandes bemerkenswert ist – ein durchaus konventionelles Buch im Format von 21 x 29 x 5,5 cm, 760 Seiten stark, in englischer Broschur. Es gibt auch eine Hardcoverversion, ebenso ein E-Book als PDF der gedruckten Fassung. Das Hardcover mag für Bibliotheken nützlich sein, das E-Book ebenso für die auszugsweise Konsultation, doch die Broschur ist zur Benutzung und eigentlichen Bearbeitung das zu bevorzugende Format, denn in dieser Bindung ist das Blättern doch sehr erleichtert – und Blättern lohnt sich in diesem Band, der nicht zuletzt eine Fülle von Bildmaterial präsentiert. 

Was man bei diesem Thema erwarten darf, hat der Band auch eine genuin digitale Dimension (zu der man das E-Book PDF nicht rechnen kann). Sie öffnet sich über die eingedruckten QR-Codes, die unmittelbar auf die frei zugängliche Homepage (atlasofdigitalarchitecture.com) führen beziehungsweise auf die dort zum Thema eingestellten Inhalte. Hier finden sich auch mancherlei Links auf anderes Material ebenso wie Verbindungen zu einschlägigen Adressen, wodurch Pfade in die genuin digitale Welt gewiesen werden. Bedenkt man, dass es sich um ein Lehrbuch handelt, so kann man diese Hinweise auch als Anleitung verstehen, wie man den ausgebreiteten Stoff weiter vertiefen kann und soll, indem man eigene Suchläufe macht und die gelegten Spuren aufgreift, um die sich sehr plastisch entwickelnde Diskussion weiter zu verfolgen. 

Als Urheber*innen erscheinen insgesamt 25 Autor*innen. Sie haben ihren Wirkungskreis an Hochschulen in Deutschland (Aachen, Bochum, Cottbus, Karlsruhe, Köln, Konstanz, Lüneburg, München, Weimar), in der Schweiz (ETH Zürich, EPFL Lausanne) und Österreich (Graz, Wien), also im deutschsprachigen Raum, wenn man einmal Lausanne davon ausnimmt (vgl. Biografien, S. 754–757). Dies gilt auch für die Herausgeber. Oliver Fritz stammt aus Berlin und lehrt an der HTW Konstanz, Urs Leonhard Hirschberg ist in Zürich geboren, lehrt an der TU Graz, Ludger Hovestadt aus Gelsenkirchen wirkt als Professor an der ETH in Zürich. 

Geschrieben wurden die Texte indessen nicht von diesen Personen. Vielmehr ist der Atlas ein kollektives Produkt von „two dozen experts and one writer“ (S. 9). Man erfährt dies in einem separaten Vorwort, das von eben jenem „writer“, Sebastian Michael, gezeichnet ist, der sich hier vorstellt und bekennt, keinerlei Expertise in Informationstechnologie oder Architektur zu haben. Seine Aufgabe sei es vielmehr gewesen, den im Gespräch vorgetragenen und aufgezeichneten Gedanken der „experts“ eine angemessene Gestalt zu geben.2 Diese Arbeitsteilung – man kennt dies sonst vor allem von Politiker*innenbiografien – ist weitgehend gelungen. So sind die Beiträge durchgehend in derselben klaren Diktion und Stillage gehalten, die Gliederung ist einheitlich mit themenbedingten Variationen, wodurch ein sehr geschlossener Eindruck entsteht, was für Sammelbände keineswegs selbstverständlich ist.  

Aufgrund der geteilten Urheber*innenschaft und der zentralen Rolle des „writers“ lag offensichtlich kein deutsches Manuskript zur etwaigen Übersetzung vor. Eine deutsche Fassung, selbst wenn dies einem Lehrbuch von deutschsprachigen an deutschen Hochschulen lehrenden Personen doch wohl entsprochen hätte, gibt es nicht. Von vornherein hat man offensichtlich eine internationale Leserschaft im Blick gehabt. Dies passt zum Programm des traditionsreichen Verlags Birkhäuser, der nach wie vor in Basel ansässig ist, allerdings seit einigen Jahren ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH mit Sitz in Berlin und Boston. Zudem ist im Bereich der digitalen Informationstechnologie die Verständigungssprache Englisch, und dementsprechend ist ein erheblicher Teil der vorliegenden kritischen oder kommentierenden Literatur zum Gegenstand in englischer Sprache verfasst. 

Diesem Diskurs schließt sich der Band an, stellt aber zugleich unter Beweis, dass gerade auch im deutschsprachigen Raum in allen Bereichen der digitalen Architektur erhebliche Sachkenntnis und kreatives Potenzial von internationaler Geltung vorhanden ist. Wie genau sich das Diskursgefüge darstellt, kann dem Atlas allerdings nur schwer entnommen werden. Einiges davon wird, allerdings ohne systematischen oder kritischen Anspruch, in den Literaturhinweisen zu den einzelnen Abschnitten erwähnt. Eine Übersicht über die Forschungsdiskussion oder eine kritisch-wissenschaftliche Einführung zum großen Gegenstand „Digitale Architektur“ findet man in dem Buch hingegen nicht. Obwohl die einzelnen Bereiche jeweils durchaus mit einer gewissen historischen Tiefe vorgestellt oder eher eingeführt werden, steht nicht die Aufarbeitung eines historischen Phänomens oder historischer Episoden im Vordergrund. Ebenso wenig soll in erster Linie eine möglichst große Vielfalt von Ansätzen, Meinungen und Sichtweisen vorgestellt oder deren kritische Erkundung unternommen werden. Vielmehr geht es um architektonische Lehre, um Grundlagenvermittlung einerseits, andererseits aber auch um spezifische Positionen und Haltungen zur Digitalisierung in der Architektur.

Die Botschaft“ – „Learn the code of your age

Wenn das Buch hinsichtlich der Gestaltung – sie stammt von der Genfer Gruppe des Grafikbüros Onlab (http://www.onlab.ch) – und Sprache aus einem Guss erscheint, so gilt dies auch für das, was man nicht umhin kann als „Botschaft“ zu bezeichnen. Gleich zu Beginn wird in der Einleitung programmatisch und mit rhetorischem Schwung der gemeinsame Standpunkt der Herausgeber und Autor*innen deklariert (S. 31–49). Es ist ein Plädoyer für einen entschiedenen, kreativen und mutigen Einstieg in die Welt der Digitalität. Dies wird in der Überzeugung vorgetragen, dass der Übergang in das neue Zeitalter ganz in der Linie einer weit zurückreichenden Tradition stehe, nicht eine Revolution, sondern eine konsequente Weiterentwicklung des Hergebrachten. In dieser Tradition wird Architektur grundsätzlich als schöpferische Hervorbringung einer Person aufgefasst, als Tätigkeit, deren Profil in der Verbindung von Technologie, Wissenschaft und Kreativität sich am Beginn der frühen Neuzeit und zwar besonders in Italien herausbildete. Auf diese mehr als ein halbes Jahrtausend alte Tradition wird teils implizit, teils explizit z.B. durch den regelmäßigen Verweis auf Leon Battista Alberti (im Register S. 738–740 erfährt man, dass er an elf Stellen genannt wird) Bezug genommen. Ihr füge sich mit dem Übergang zur Digitalität ein neuer Abschnitt an als ein neues Zeitalter, das aber wiederum, wie einst die Architektur der frühen Neuzeit in Italien, von einem theoretisch-technischen Ansatz geprägt sei. Verbindendes Moment sei die „literacy“, wörtlich die Lese- und Schreibfertigkeit, die hier im weiteren Sinn als theoretische oder diskursive Kompetenz verstanden ist. 

Zur Darlegung und Plausibilisierung des großen Gedankens einer epochalen Kontinuität oder Reprise greift man tief in das historische Regal. Folgt man in Neugier auf digitale Inhalte und Verknüpfungen zunächst dem Barcode am Ende des Textes, so öffnet sich ein Youtube-Video. Ganz bilderlos lässt sich da ein berühmter Text des italienischen Humanisten Giovanni Pico della Mirandola hören. Es ist dessen sehr schön, aber natürlich in englischer Übersetzung verlesene (die Stimme ist jene des „writers“) Rede über die Würde des Menschen (De hominis dignitate, erstmals publiziert 1496). In der Lektüre der Einleitung erfährt man nun, dass dieses „manifesto for the Renaissance“ in unmittelbarer Beziehung zur Frage stehe, was es in einer Ära der Digitalität heiße, ein Mensch zu sein, „a digital human“, und dann natürlich auch „a digital architect“ (S. 31). Was ist gemeint? In der historischen Literatur wird der Text Picos als Fanal jenes Aufbruchs zur Neubestimmung des Menschen interpretiert, den man seit dem 19. Jahrhundert als „Renaissance“ bezeichnete, insofern hier die Würde des Menschen maßgeblich mit dessen Gebrauch seiner Verstandeskräfte in Verbindung gebracht wird. Die Herausgeber des Atlas wollen sich in dieser Tradition sehen und möchten in jener damals sich abzeichnenden Neuorientierung eine Art Präfiguration, eine Parallele zu jenem Umbruch sehen, der sich mit dem Übergang „into the ‚digital age‘“ zeige: 

„With our move into the ‘digital age‘ – our current era that is characterized by information technology or digitality – we similarly let go of man established certainties and ‘ways of doing things’, and are therefore not just called upon to adapt and adjust […] but more fundamentally we are given the opportunity to completely reimagine our own role in relation to the things we do, the materials we work with, the works we create, and the people we share our cities, our spaces, and our culture with. We can ask ourselves a whole different type of question, such as, ‘what is it I want to be today?’ or ‘wouldn’t it be fantastic if I could design a building that understands me perfectly?’ or ‘where in the world do I want to be at home for the next hour or so?’” (S. 35)

„What is it I want to be today?“ – die Frage erinnert nicht von ungefähr an den 1994 lancierten Werbeslogan von Microsoft „Where do you want to go today?“, der hier gewissermaßen existenzialistisch überboten und auf die Architektur und die in ihr Agierenden übertragen wird. Noch einmal, wie einst in der Renaissance, komme es zur Befreiung von festgefahrenen Denkmustern und Praktiken. Digitalität, der Einsatz des Computers in der Architektur, bedeute eine neuerliche, zukunftsträchtige Entgrenzung. Hierzu wird pointiert angemerkt, Computer seien keine Maschinen, mit denen man lediglich etwas Bestimmtes ausführen kann, sondern „information handling devices“, mit denen man Irgendetwas, das heißt, was immer man möchte, tun könne. Darin liege die grundstürzende Dimension der Digitalität: Digitale Technologie durchdringe alles und führe zur kompletten Veränderung von allem Hergebrachten. Vor diesem Hintergrund möchte das Buch darlegen, wie sich Architektur im Zeichen der Digitalität bereits verändert hat. Die Botschaft des Bandes ist hier ganz klar: Der Übergang zur digitalen Architektur ist nicht optional, sondern bereits vollzogen. Hovestadt, Hirschberg und Fritz sind fest davon überzeugt, dass der zukünftige Gang der Dinge von jenen bestimmt werde, die über entsprechende Kompetenzen verfügen3: „We need to become newly literate“ (S. 35). Die Forderung bezieht sich auf einen in der Antike begründeten Topos, jene Bemerkung Vitruvs über die Notwendigkeit der „Literalität“ des Architekten4, der zu aktualisieren sei. Heute müsse demnach jene neue „Sprache“ erlernt werden, die unsere Zeit bestimme, „Code“ (S. 35). „BECOMING LITERATE” ist die große abschließende Empfehlung der Einleitung und „learn the code of your age“ (ebd.) das Gebot der Stunde. 

Der „Code“ unserer Zeit – im weiteren Sinn – wäre nach Meinung der Herausgeber des Bandes jener der Digitalität. Wer also heute ambitioniert Architektur betreiben will, muss sich demnach in jedem Fall mit den Grundlagen der digitalen Technologie, die auf vielfältige Weise längst zur Anwendung kommen, vertraut machen, um „up to date“ zu sein. Diese allgemeine Forderung kann auch spezifisch interpretiert werden. So vertritt Ludger Hovestadt in seinem hierzu einschlägigen Beitrag über „Writing & Code“, S. 369–397, die Meinung, dass die Beschäftigung mit „Code“ auch in technisch-handwerklicher Hinsicht unabdingbar sei. Das Erlernen einer oder mehrere Script- oder Programmiersprachen, jedenfalls aber die Bedienung einschlägiger Software gehöre zu jenen Fertigkeiten, die man sich im Studium anzueignen habe. Hier stutzt man ein wenig, denn Code-Schreiben, „Programmieren“, in eine Software vertiefter eingreifen, ist bekanntlich ein Metier für sich. Eine Programmiersprache zu erlernen und zu benutzen, ist zeitaufwändig, deren Beherrschung bedarf der kontinuierlichen Übung und es ist fraglich, ob angesichts der dynamischen Entwicklung im Software-Bereich, die auf eine immer einfachere intuitive Nutzung abzielt, wirklich die Notwendigkeit besteht, dass sich heute angehende Architekt*innen mit Programmiersprachen beschäftigen sollten. Das wird an anderer Stelle im Atlas auch ausdrücklich eingeräumt (zum Beispiel von Urs Hirschberg im Kapitel „Scripting“, S. 353). Wie im Atlas aber immer wieder nachdrücklich und geradezu werbend betont wird, sei die Aneignung gewisser Fertigkeiten keine Hexerei, wenngleich man, wie dies auch für „analoge“ Technologien gilt, in diesen Bereichen bis zur Meisterschaft gelangen könne („mastery“ ist das Stichwort).5 Tatsächlich hat die technologische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte im IT-Bereich die Schwelle zur kreativen Nutzung des Potenzials von Computern in vielen Bereichen immer weiter abgesenkt, was auch für die verschiedenen Anwendungen im Bereich der Architektur gilt. In jedem Fall aber werden Architekt*innen zukünftig mit jenen zusammenarbeiten müssen, die tatsächlich „Code“ schreiben können. „Coexistence“ und „Collaboration“ sind daher zentrale Stichworte hierzu; unabdingbar ist „collaboration between information technology and architects“ (so im Untertitel zu Part VI, S. 591; siehe auch S. 629–640). 

Zur Rolle des Bildes

Der Atlas möchte nun allerdings nicht primär dazu anleiten, „Code“ zu schreiben oder ein Zeichenprogramm zu bedienen. Vielmehr geht es um die grundlegende, systematische Erläuterung der Durchdringung des gesamten Spektrums der Architektur mit digitalen Technologien. Abgehandelt wird dies in sechs großen Abschnitten mit jeweils mehreren Unterkapiteln, die, wie man sagen könnte, Teildisziplinen betreffen. Den Anfang macht der Entwurf („Design“), jene Disziplin, in der sich der kreative Impuls manifestiert. An zweiter Stelle folgt aber sogleich das Bild (The Image). Danach wird „Sprache“ behandelt, worunter Typografie ebenso fällt wie „Scripting“ und Code-Schreiben. Im Kapitel „Matter and Logic“ wird „the physical representation of architecture“ behandelt, während der nächste Abschnitt „Logistics“, als komplementäres Stück dazu, der „dynamic representation of architecture“ gewidmet ist. Das Schlusskapitel, „Coexistence“, thematisiert die bereits angesprochene notwendige Synthese aus technologischem und kreativem Zugriff. Alle Bereiche sind aufeinander bezogen und innerhalb der Texte durch zahlreiche Querverweise verknüpft, wobei es mitunter auch zu gewissen Redundanzen kommt, was aber nicht stört. Die einzelnen Beiträge beginnen mit einer Übersicht, oft eingeleitet durch einen literarischen oder kulturgeschichtlichen Aufhänger eher illustrativer Art (von Paul Klee, über Leon Battista Alberti, Guglielmo Marconi, Oscar Niemeyer, Charles Darwin bis Prince Charles kommen die unterschiedlichsten Figuren ins Spiel, was gelegentlich kurios, stets aber unterhaltsam ist …), enthalten einen historischen Teil oder führen Beispiele an und enden mit einem Ausblick. 

Dass am Beginn der Entwurf steht, dem auch am meisten Platz eingeräumt wird, ist nicht überraschend. Es zeigt sich in dieser Setzung eben jene traditionelle Konzeption von Architektur als kreative Formfindung für eine konkrete Aufgabe, eine definierte Funktion, die einer Verkörperung an einem bestimmten Ort bedarf, die zuvor aber im Kopf (oder Bauch) einer Architektin oder eines Architekten als Idee Konturen gewonnen hat. Zumindest impliziert ist hierbei, dass es sich um eine Person handelt, selbst wenn auch nicht ausgeschlossen wird – was in der Praxis natürlich die Regel ist –, dass ein Entwurf selbst dann das Produkt mehrerer Köpfe und Hände ist, wenn eine sogenannte ‚Stararchitektin‘ oder ein ‚Stararchitekt‘ als Urheber*in zeichnet.

Weniger selbstverständlich, aber desto bedeutsamer ist, dass schon an zweiter Stelle nach dem Entwurf das „Bild“ folgt, ist doch dessen Rolle im architektonischen Prozess durchaus umstritten, wenn nicht sogar anrüchig. 

Damit ist nicht gemeint, dass Architekt*innen kein Verhältnis zum Bild hätten. Bilder gehören vielmehr selbstverständlich und immer schon zu den wichtigsten Arbeitsmitteln und Inspirationsquellen von Architekt*innen. Auch das vorliegende Buch trägt diesem Umstand Rechnung, worauf auch seine Bezeichnung als Atlas hindeutet, denn darunter ist stets ein Bildkompendium zu verstehen. Dem Bild wird im ganzen Buch ein separater Argumentationsstrang zugestanden: Schon neben dem Inhaltsverzeichnis wird als gleichwertiger Einstieg ein bildliches Äquivalent, die „Chapter Gallery“, angeboten. Jedem Kapitel ist zu Beginn eine schwarzgrundige Doppelseite eingeräumt, auf der zu jedem der Unterabschnitte wiederum jeweils ein Bild gezeigt wird, das für den entsprechenden Beitrag besonders signifikant ist und sich im zugehörigen Bildteil wiederfindet, der jeweils bis zu fünf Doppelseiten umfasst. Die Textbeiträge sind zudem von kleinen Illustrationen durchsetzt und am Ende eines jeden Hauptkapitels finden sich weitere Bildseiten in Farbe.6

Bilder sind in dieser Verwendung und aus dieser Perspektive Gegenstand der Gestaltung und Kommunikation und als solche unkritisch. Anders steht es um das „Bild“ im Bereich der Architektur selbst, um dessen Anteil am Architektonischen. Im Atlas erscheint nun das „Bild“ als der Architektur zugeordnet, als Teil des größeren Komplexes, parallel zur „Sprache“, wie sich schon in der unmittelbaren Aufeinanderfolge der beiden Kapitel offenbart, womit andererseits zugleich eine elementare Differenz angezeigt wird oder auch ein komplementäres Verhältnis der beiden. So ließe sich behaupten, dass im Bereich der digitalen Architektur, so wie sie im Atlas vorgestellt wird, das Schreiben („Language“, „Scripting“, „Writing & Code“) in einem fundamentalen Gegensatz zu einem auf Visualität gründenden Zugriff im „Design“, im „3D Modeling“, „Rendering“ und „Visualisation“, „Model Making“, „Simulation“ etc. steht, wenn „Code“ als größtmögliche Abstraktion auf die eine Seite und „image“ für maximale Anschaulichkeit oder sinnliche Konkretion auf die andere gestellt wird. 

Aber es gilt hier doch etwas genauer zu unterscheiden zwischen bildnerischer Gestaltung und Abbildlichkeit. Gleich zu Beginn des ersten Beitrags über „Design“ (Marco Hemmerling) wird der architektonische Entwurf als visuelle Gestaltung, sogar als „bildnerisches Gestalten“ im Sinne des hier zitierten Paul Klee aufgefasst (S. 59). Damit ist Visualität gemeint, aber keineswegs Abbildlichkeit. „Design“ meint, wie es im Untertitel des Design-Kapitels heißt, „Creating the Geometries of Architectural Artefacts“ (S. 55). Es geht demnach um absolute Gestaltung, die auf nichts außerhalb ihrer selbst verweist, um die Gestaltung von Raum, der an sich nicht sichtbar ist, aber von Architektur umfasst wird, die sich dem Auge zeigt und sich wiederum visualisieren lässt. Die einzelnen Abschnitte des Kapitels behandeln Formen solcher Visualisierung, wie die hier absolut zentrale 3D-Modellierung (Marco Hemmerling) und das Computer Aided Design (Harald Gatermann, Oliver Fritz). Zur Sprache kommt auch die digitale Datenerhebung („Digital Data Acquisition“, Nikolaus Zieske), die sich im Wesentlichen als Datenermittlung auf fotogrammetrischer Grundlage erweist. Es werden aber auch bildfernere Aspekte des Entwerfens wie generative Methoden und schließlich „Graphs & Graphics“ diskutiert.

Im Kapitel über „The Image“ steht dagegen die visuelle Repräsentation im Mittelpunkt, das heißt die mit digitalen Mitteln generierte Abbildung von Architektur. Im ersten von drei Abschnitten wird das Problem der Farbe behandelt („Image & Colour“, Harald Gatermann), gefolgt von „Rendering“ (Urs Hirschberg) und „Visualisation“ (Dominik Lengyel, Philipp Schaefer). Dass an erster Stelle Farbe zu diskutieren ist, erklärt sich aus der besonderen Relevanz dieser Kategorie für jegliche bildliche Repräsentation. Es ist ein Aspekt des bildnerischen Gestaltens, der in der Architektur, je nach Schule und Haltung, vielfach unterschätzt oder an den Rand gedrängt wurde, da Farbigkeit keine Frage des Raumes, der reinen Form ist, womöglich lediglich akzidentiell, etwas Zufälliges, jedenfalls Veränderliches, nicht Beständiges, kaum Kontrollierbares – mit einem Wort, etwas zutiefst ‚Unarchitektonisches‘ also, von dem man daher am liebsten absehen würde. Diese Auffassung, die in der klassischen, angeblich (!) „weißen“ Moderne ihr schimärisches Ideal fand, hatte freilich nie absolute Geltung. Im Zeitalter der Digitalen Architektur ist sie vollends unhaltbar; denn kein Zeichen-, Entwurfsprogramm und keine Visualisierung könnte es sich leisten, die Möglichkeiten der Farbgestaltung im digitalen Bild auszuklammern. Dies zeigt schon, wie sehr sich der gesamte Bereich der digitalen Architekturwerkzeuge auf „Bildlichkeit“ im weitesten Sinn eingelassen hat. 

Dies ist denn auch eine der zentralen Erkenntnisse, die sich dem – gewiss durch die besondere Perspektive einschlägig voreingenommenen – Leser des Atlas immer deutlicher aufdrängt: Architektur heute, im digitalen Zeitalter, scheint zutiefst von „Bildlichkeit“ geprägt, die nun in einer spezifischen, nämlich digitalen Form und zwar auf mehreren Ebenen im Spiel ist. Die Differenz zu einem Zeitalter vor der Digitalität zeigt sich schon im elementaren Entwurfsprozess. Was vor Jahrhunderten als Linienzeichnung auf dem Boden begann, in Plänen und Diagrammen weitergeführt wurde, die stets als zweidimensionale Gebilde gedacht waren (worauf das Wort „Plan“ schon hinweist), ist heute durch das 3D-Modell überholt. Dessen eigentliche Qualität als Entwurfstool besteht darin, wie man sehr vereinfachend vielleicht sagen könnte, dass es wie eine dreidimensionale Figur gleichsam plastisch gestaltet werden kann, das heißt aber, als „Bild“, aus der Anschauung heraus modelliert wird. Eine Linie, ein Parameter wird geändert, es ändert sich das ganze Modell und die Wirkung der Veränderung kann von allen Seiten betrachtet werden, es kann korrigiert, wiederum betrachtet, gedreht und gewendet werden, bis es „gefällt“, bis das visuelle Urteil positiv ausfällt. Dies bedeutet, dass eine Architektur, wenn man möchte, nahezu von Beginn an nach der visuellen Wirkung konzipiert und gestaltet werden kann. Dies heißt jedoch nicht zugleich, dass es auch Pflicht ist, denn der digitale Entwurf bietet ebenso andere Möglichkeiten, die von Zahlen ausgehen, von abstrakten Regeln (generatives, parametrisches Entwerfen); auch diese werden in gebotener Ausführlichkeit im Atlas behandelt (es sind die genannten Abschnitte von Urs Hirschberg und Oliver Fritz über „Generative Methods“ und Ludger Hovestadt über „Graphs & Graphics“). Gleichwohl bleibt aber auch hier immer das generierte „Bild“ als 3D-Modell die letzte Referenz zur – anschaulichen, anschauenden – Prüfung der Ergebnisse. Dies bedeutet: Das komplexe „Bild“ ist die Zielgröße, auf die ein Entwurf hinsteuert, bevor irgendeine Bauentscheidung gefällt wird. 

Man kann wohl einwerfen, dass dies mehr oder weniger immer schon so war. Welcher Auftraggeber wollte nicht selbst eine „Ansicht“ zum „Plan“ haben, am liebsten ein möglichst großes plastisches Modell. Dergleichen ist seit der Renaissance überliefert. Die realistisch wirkende perspektivische Darstellung hat schon im 18. Jahrhundert eine Blütezeit erlebt, im Architekturwettbewerb gehört sie seit jeher zu den verlangten Repräsentationen eines Projektentwurfs. Bei dergleichen handelt es sich allerdings immer schon um Visualisierungen, die dem eigentlichen Entwurfsprozess nachträglich sind. Deren Bedeutung ist auch im digitalen Zeitalter ungebrochen: Ihre aktuelle Gestalt nennt sich „Rendering“ oder „Visualisierung“, zwei Begriffe, die im vorliegenden Lehrwerk klug und gut begründet auseinandergehalten sind, die aber oft synonym gebraucht werden und meist ineinander übergehen. Es geht hier um die zweidimensionale Vorstellung einer „Ansicht“, um ein Bild also dessen, was einst gebaut werden soll (oder einmal gebaut war). Nach wie vor zielen die Spezialist*innen dieser Bereiche meist auf eine möglichst realistische, auch „fotorealistisch“ genannte Repräsentation, es ist sogar mitunter die Rede von „virtueller Fotografie“ (Dominik Lengyel, S. 293), womit man offenlegen möchte, dass der fotografische Effekt in künstlicher Weise erzeugt und gestalterisch kontrolliert wird. Hierzu gehört auch, dass Stimmung, Stilistik, Atmosphäre, Suggestivität etc. von Belang sind; auch das könnte man aber von mancher Perspektivansicht des 18., 19. oder 20. Jahrhunderts sagen. 

Entscheidend für die neuen Formen der visuellen, abbildlichen Repräsentation (sei es nun Rendering oder Visualisierung) scheint aber zu sein, dass ihre Bedeutung im digitalen Zeitalter nicht nur graduell zugenommen hat, sondern eine neue Position besetzt, indem der digital modellierte bildliche Eindruck bereits im Prozess und auch im Vorgriff einer Realisierung den Entwurf zu bestimmen begonnen hat, dass Architektur aufgrund der Möglichkeiten der digitalen Entwurfs- und Visualisierungswerkzeuge weit stärker als jemals „vom Bild aus“ gedacht und konzipiert und nicht zuletzt auch vermarktet wird. 

Ein Fazit

Der Atlas of Digital Architecture ist eine umfassende, systematisch orientierte Bestandsaufnahme zum Thema, die eine grundlegende Prägung der heutigen Architektur durch die digitale Technologie, das digitale Werkzeug postuliert und argumentativ überzeugend aus einer Reihe von Perspektiven darlegt. 

Dass diese Prägung im Grunde viel weniger die Dominanz abstrakter mathematisch-informatischer Verfahren bedeutet, sondern als vielleicht dialektisches Gegenstück die ebenso starke Orientierung am digital generierten „Bild“ mit sich bringt, ist eine hier forcierte Hypothese, die sich vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses des SPP-Projekts „Architecture Transformed“ ergibt und die  – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der historiografischen Aufarbeitung des Phänomens der digitalen Architektur – weiter zu überprüfen wäre. 

Hierzu sei ein weiterer Aspekt, der bislang noch nicht zur Sprache kam, hinzugefügt. In einem der letzten Abschnitte des Bandes wird eines der interessantesten Felder umrissen, das sich digitaler (Bild-)Forschung im Computerzeitalter öffnet – die Untersuchung dessen, was hier als „The Big Plenty“ (der große Überfluss) angesprochen wird („Being a ‚Brand‘“, Diana Alvarez-Marin und Miro Roman). Darunter ist zum einen die notorische „Bilderflut“ zu verstehen, die sich im Internet ausbreitet und auch die Architektur betrifft, zum anderen die ebenso digital verfügbaren sprachlichen Äußerungen von Architekt*innen. Beide sind Teil eben jenes potenziell unendlichen Informationsraumes, der in digitaler Form vorliegt und sich demnach auch der Erforschung mittels digitaler Methoden darbietet, wie dies im genannten Beitrag spielerisch und experimentell vorgeführt wird. „The Big Plenty“, dieser Bilder- und Textkosmos erweist sich als ein unerschöpflicher Forschungsraum für zukünftige Arbeit nicht nur im Feld der Architektur, sondern ebenso für eine bildwissenschaftlich orientierte Kunstgeschichte, für jene Forschung zumal, die sich mit digitaler Architektur, oder besser, mit Architektur im Zeitalter der Digitalität befasst. 

Der Atlas of Digital Architecture ist ein gelungenes, inspirierendes Buch zur Orientierung in diesem Gebiet, verfasst von Praktiker*innen für (angehende) Praktiker*innen. Gerade weil es sich um ein Lehrbuch für Anfänger*innen handelt, bietet der Band auch für die von außen auf den Prozess, auf die Formierung des Feldes blickende Theorie vorzügliches Material. Der Atlas lässt sich geradezu als eine Quellenschrift zum Thema lesen, um der Aufgabe einer kritischen Interpretation und Beurteilung des Phänomens der „Digitalen Architektur“ und der Bestimmung der Rolle des „digitalen Bildes“ im Architekturprozess näherzukommen.

1 Atlas of Digital Architecture. Terminology, Concepts, Methods, Tools, Examples, Phenomena, hrsg. v. Ludger Hovestadt, Urs Hirschberg, Oliver Fritz, verfasst von Sebastian Michael, Beiträge von Diana Alvarez-Marin, Jacob Beetz, André Borrmann, Petra von Both, Oliver Fritz, Harald Gatermann, Marco Hemmerling, Urs Hirschberg, Ludger Hovestadt, Ursula Kirschner, Reinhard König, Dominik Lengyel, Bob Martens, Frank Petzold, Sven Pfeiffer, Miro Roman, Kay Römer, Hans Sachs, Philipp Schaerer, Sven Schneider, Odilo Schoch, Milena Stavric, Peter Zeile, Nicolas Zieske, Basel: Birkhäuser Verlag 2020.

2 https://www.sebastianmichael.com/cv.html.

3 Vgl. dazu die Aussagen von Hovestadt im Interview mit der Zeitschrift Parkett: https://www.hochparterre.ch/nachrichten/architektur/blog/post/detail/ludger-hovestadt-uber-unsere-5-thesen-zur-digitalen-architektur/1617726280/.

4 Vitruv, De architectura, I, 1. Hier die Rede vom Architekten, der „sine litteris“, also ohne wissenschaftliche Bildung, sein Ziel nicht erreichen könne. 

5 Wie leicht der Einstieg tatsächlich ist, belegt die frei verfügbare, für Anwendungen im Bereich der Software „Processing“, die in eine hoch entwickelte, frei zugängliche Infrastruktur für den „visual context“ und z. B. umfassende Lernunterstützung bietet (siehe: https://processing.org/ ). Am Rande sei angemerkt, dass Ludger Hovestadt dieses 2001 ins Leben gerufene Projekt 2007 z. B. im Rahmen einer grundlegenden Einführung in das Programmieren einsetzte.

6 Das Konzept der Verbindung von Text- und Bildargument wird mehr oder weniger konsequent umgesetzt, selbst wenn sich nicht alle Beiträge gleichermaßen zur Visualisierung eignen. In den Abschnitten „Writing & Code“ findet man vor allem Diagramme, dazu einige eher illustrative Fotos von Menschen, die sich mit Rechnern unterschiedlicher Art befassen. Etwas trocken ist die Ausstattung des Abschnittes über „Building Information Modeling (BIM)“ ausgefallen, im Unterkapitel über „The Internet of Things“ (Kay Römer) wird ausnahmsweise auf die Bildstrecke ganz verzichtet.