„Sind Sie die immer selben alten, einfachen Bilder leid?“
Unsere Sehgewohnheiten verändern sich durch die Entwicklungen und den Einfluss des Internets und der uns dort ständig überflutenden Bildmengen, ins Besondere bei der Nutzung von sozialen Medien; die ansteigende Masse an Bildmaterial drängt uns auch im geisteswissenschaftlichen Diskurs über technisch-methodische aber auch interpretativ-analysierende Maßnahmen nachzudenken.
An die Stelle des Fortschrittsglaubens ist die Anerkennung der Komplexität des Sehens und Verstehens getreten. Hinzu kommt der technische Fortschritt, der unsere Wahrnehmung durch immer schneller werdende Bildfolgen verändert, aber auch durch Bildwelten, die sich in- und umeinander legen. So entstehen mehrdimensionale Beziehungsgeflechte, die zum einen die Grenzen unseres kognitiven Systems ausreizen, zum anderen aber auch auf die Wahrnehmung und das ästhetische Bewusstsein einwirken. Diese durch die technischen Möglichkeiten bedingten Veränderungen führen zum Teil zu hoch komplexen Wahrnehmungs-, Speicherungs- und Assoziationsgeflechten, deren Entschlüsselung nur annähernd gelingen kann.
Im Zuge der Recherchen zu meinem Dissertationsprojekt Die imaginäre Stadt – Erinnerungsort oder Palimpsest? Studien zur Medialisierung der modernen Großstadt[1] hinterfrage ich paradigmatisch einige dieser Beziehungsgeflechte in ihrer Wahrnehmung und ihrem Erleben. Anhand eines Erinnerungsortes im öffentlich urbanen Raum der Metropole Rom, setze ich mich mit den veränderten Blicken und Assoziationen einer durch den Digital Turn geprägten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts auseinander. Dabei gilt es zu erörtern, inwieweit sich die Bedeutung solcher Orte, ihre symbolische Belegung und ihr Verständnis im Laufe der Zeit verändert hat: Dort wo neue Assoziationen in Form von Fotografien, Filmen oder politischen Statements auf bereits bestehende Kunstwerke projiziert werden, entsteht ein mehrschichtiges, sinnübergreifendes oder auch sinnveränderndes Narrativ, das sich im vorliegenden materiellen Bestand zu einem ,neuen‘ Kunstwerk verdichtet.
Dabei fokussiere ich vornehmlich das Medium der Fotografie, das seinerseits ständig technische Neuerungen erfährt: Neben den professionellen Digital-Kameras werden auch die Kamerafunktionen der diversen Smartphones kontinuierlich weiterentwickelt. Diese technischen Neuerungen beeinflussen nicht nur die alltägliche Praxis des Fotografierens wie auch die Struktur von Social-Media Netzwerken, sondern auch die sozial erworbenen Sehgewohnheiten.
Verdeutlichen will ich das anhand des Phänomens des ,Live Fotos‘, das durch die Markteinführung des Apple I-Phones 6s und 6s Plus[2] 2015 erfolgte und mittlerweile einen Siegeszug in der allgemeinen Nutzung feiert; Fortan war es möglich, nicht mehr nur ein Foto per Kamera-App schnell und einfach zu erstellen, sondern gleichfalls eine Art Moment-Bewegtaufnahme des Bildes zu speichern.[3] Die Fotografie, das sogenannte Live Foto, wird technisch damit zum Film und ermöglicht die Auswahl des Bildes im Nachhinein, zeigt eine Momentaufnahme oder wie es euphorisch auf dem Schweizer Blog „Foto fürs Leben“ heißt: „Bilder, die sich bewegen, kennt man eigentlich nur aus Romanen mit Magie und Zauberei.“[4]
Diese technische Innovation steht in der Tradition des bewegten Bildes; durch die Aneinanderreihung von Bildern, die die Illusion einer fließenden Bewegung simulieren, führte dies über verschiedene technische Stufen im späten 19. Jahrhundert zur Errungenschaft des Filmes. Man könnte diese ,Innovation‘ daher auch als eine Art rückwärts laufende Entwicklung entlarven. Unabhängig aber von einer Wertung müssen wir konstatieren, dass es diese Bilder sind, die die Fotografie als Momentaufnahme, wie wir sie kennen, mehr und mehr verdrängt. Obgleich das ,Live Foto‘ noch nicht ausschließlich genutzt wird und man noch wählen kann, zwischen der Aufnahme einer Fotografie und der eines ,Live Fotos‘, scheint dieses neue Format doch gerade in den jüngeren Generationen den Begriff der Fotografie neu zu prägen.
Ein beispielhafter Indikator dafür scheint mir eine schlichte Werbung der Marke Huawei[5] zu sein, in der es heißt: „Sind Sie die immer selben alten, einfachen Bilder leid? Nehmen Sie mit der Kamera des Mate 20 Pro bewegte Bilder auf und bewahren Sie die Erinnerung an wundervolle Momente für immer.“[6]
Verkauft wird hier eine angebliche technische Revolution (nämlich die des bewegten Bildes), die gleichzeitig der „immer selben alten, einfachen“ Fotografie eine überholte und langweilige Technik und Ästhetik zuweist.
Die gewählten Begriffe „Bewahren“, „Erinnerung“ und „Momente“ verdeutlichen das fortbestehende Bedürfnis vieler Menschen, persönlichen Erinnerungen und Erlebnisse (das Fotobuch ist nun die Galerie der Bilder auf dem Handy) zu sammeln und zu bewahren. Dies scheint unstimmig und konträr zu den großen Bildmengen, die unablässig im World Wide Web und speziell in den sozialen Medien ausgetauscht werden und damit im Grunde jegliches Erinnern zwar technisch ermöglichen, allerdings die vorgegebenen Kapazitäten des menschlichen Gehirns überfordern.
Übersehen wird hierbei jedoch der Verlust des ästhetisch definierten Moments, der in einer Fotografie normalerweise kondensiert, der eben einen ganz bestimmten Punkt festhält, Gesten und situative Gegebenheiten, die nicht mehr vor- oder zurück gespult werden können. Mit dem ,Live Foto‘ hingegen wird fortan mit Hilfe von Sekundenfilmchen erinnert. Inwieweit dies vielleicht die Mechanismen unseres Gedächtnisses und damit auch die Form von Erinnerungen beeinflussen könnte, wäre noch zu erforschen. Es ist jedoch zu vermuten, dass es neben diversen anderen Auswirkungen insbesondere Einfluss auf die Fantasieleistung, also auf die Imaginationsfähigkeit des Menschen haben könnte, deren Folgen gerade im Kreativbereich nicht wünschenswert wären.
Dass dieser Versuch einer Weiterentwicklung der Fotografie kein Einzelfall ist, lässt sich durch die zeitgleich entstehende Vielfachnutzung des GIF´s beweisen. Hier heißt es in einem Artikel des österreichischen Internetportals für Nachrichten aus dem Bereich Computer, Informationstechnik, Telekommunikation und Netzpolitik:
„Ein GIF kann Emotionen einfach besser ausdrücken als Bilder oder Worte. Richtig persönlich wird es, wenn du das Bewegtbild selbst erstellst.“[7]
Die knapp beschriebenen neuen Bildphänomene sind in den letzten 5 Jahren entstanden und beeinflussen und gestalten unsere Wahrnehmung und damit unser Wirklichkeitsverständnis. Sie sind nicht nur in der Notwendigkeit technischen Fortschritts im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf motiviert, sondern folgen auch dem Innovationsdruck der aktiven sozialen Medien: Um nicht wie die klassischen Beispiele des Studi- oder Schülervz´s oder des ICQ´s als ,social ghost cities‘ zu enden, müssen sie mit immer neuen Möglichkeiten die Kommunikation ihrer User befeuern.[8] So ist es inzwischen möglich statt eines „Profilfotos“, ein „Profilvideo“ aufzunehmen, statt ein Foto hochzuladen eine Story zu erstellen, statt eines geschrieben Statements, ein ,Live Video‘ zu starten. Das Stichwort hinter diesen Innovationen folgt dem gesellschaftlichen Wandel: Schneller, Mehr, Leichter; weg von der Kommunikation zwischen nur zwei Gesprächspartnern (das dauert ja auch zu lang) hin zu einer kombinierbaren Gruppenunterhaltung im sogenannten Freundeskreis oder in festgelegten Gruppen, die mehr und mehr audiovisuell das aufwendige Eintippen eines geschriebenen Textes im Ausdruck ersetzen sollen.
Die hier thematisierten Neuerungen einer fotografischen Bildform sind für das Analysieren von Wahrnehmungen und Assoziationen – und damit der Wahl des Festhaltens einer persönlichen Sichtweise – von Bedeutung. Sie fordern nunmehr einerseits eine genaue Untersuchung des Bildes, das wie behauptet „alt und immer gleich“ seinen Rückzug angetreten hat, und andererseits einen Ausblick auf die Strukturen zukünftigen Erinnerns von Kunst- und Kunstwerken, von Geschichte und Wissen.
Kontakt: Leonie Groblewski M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte, Bildarchiv Foto Marburg, Philipps-Universität Marburg, Biegenstraße 11, D-35037 Marburg, leonie.groblewski@fotomarburg.de
[1] Meine geplante Dissertation mit dem Arbeitstitel „Die imaginäre Stadt – Erinnerungsort oder Palimpsest? Studien zur Medialisierung der modernen Großstadt“ entsteht unter der Betreuung von Prof. Dr. Hubert Locher an der Philipps Universität Marburg, der Projektabschluss ist für Ende des Jahres 2022 geplant.
[2] Die I-Phone Modelle 6s und 6s Plus erschienen zeitgleich 2015, vgl. bspw.: https://www.giga.de/unternehmen/apple/tipps/live-photos-mit-iphone-6-aufnehmen-geht-das/ (zuletzt eingesehen am 18.11.2020)
[3] D.h.: Sobald die Kamera geöffnet ist werden Bilder aufgenommen und im Zwischenspeicher gespeichert. Sobald Sie auf den Auslöser drücken, werden die 1,5 Sekunden vor und nach dem Klick in einem Video File gespeichert. Das ,Video‘ wird in der Galerie als ein ,bewegtes Foto‘ angezeigt. Vgl. bspw.: ,https://www.fotografieren-kurs.de/foto-blog/bilder-die-sich-bewegen-koennen-handys#:~:text=Bei%20aktivierter%20%22bewegte%20Bilder%22%20Funktion,l%C3%A4nge%20von%203%20Sekunden%20abgespielt(zuletzt eingesehen am 18.11.2020)
[4] Die Autorin wird vermutlich an die berühmten Verfilmungen des Roman-Klassikers „Harry Potter“ gedacht haben. In der Schule für Hexerei und Zauberei (Hogwarts) bewegen sich die gemalten Personen in ihren Bilderrahmen, als ob sie lebendig seien. Zum Thema der Innovation durch das Live Bild räumt die Autorin etwas später selbst ein, dass es auch noch andere technische Möglichkeiten gäbe ein bewegtes Bild zu versenden (bspw. Videos oder GIF´s). Vgl. hierzu: https://www.fotos-fuers-leben.ch/fototechnik/smartphone-fotografie/iphone-live-photos/ (zuletzt eingesehen am 18.11.2020).
[5] Das Datum konnte ich nicht mit absoluter Gewissheit recherchieren, die Werbung stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Zeitraum 2018-2020.
[6] https://consumer.huawei.com/de/support/faq/wie-werden-bewegte-bilder-aufgenommen/ (zuletzt eingesehen am 18.11.2020).
[7] https://www.futurezone.de/apps/article226254257/GIF-erstellen-Mit-diesen-5-Apps-funktioniert-es.html (zuletzt eingesehen am 18.11.2020). Ein GIF funktioniert ähnlich wie das beschriebene Live-Foto, allerdings erhält der User einen etwas größeren Spielraum in der Auswahl des Momentes durch die gezielte Weiterverarbeitung von Grunddateien, wie Videos.
[8] Diese inaktiven sozialen Medien können noch immer (zumindest ist dies bei Schüler- und Studivz gegeben) eingeschränkt genutzt werden. Sie gelten als „tot“ nachdem sie Anfang der 2010-er Jahre große Einbrüche in ihren Nutzerzahlen verbuchten und schlussendlich Insolvenz anmelden mussten. Vgl. hierzu den Artikel von Matthias Schwarzer „Friedhof der Gruscheltiere: Ein Besuch im leeren Studivz“ vom 18.Januar 2020 auf der Online-Seite des Redaktionsnetzwerks Deutschland: https://www.rnd.de/medien/friedhof-der-gruscheltiere-ein-besuch-im-leeren-studivz-BPY3FYWHSBH6DHDDHZ4RY4DYNA.html (zuletzt eingesehen am 18.11.2020).
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