Zwischen Realität und Virtualität: Selfies in Pokémon Go
Von Charlotte Marlene Friedrich und Juliane Hellwig
Seit der Erfindung von Kameras ist es den Menschen möglich, schöne Momente, Geschichten und Ereignisse fotografisch festzuhalten. Auch das Porträtieren von Personen darf hierbei natürlich nicht außer Acht gelassen werden, insbesondere das Selbstporträt, in dem der Ursprung des Selfies liegt.
Verschiedene Posen, wie etwa einen Kussmund zu formen, aus denen der ein oder andere Trend entstanden ist, sind über die Jahrzehnte zu beobachten. Mit dem Aufkommen von Frontkameras in Smartphones ist die Möglichkeit, ein Portrait von sich selbst anzufertigen, noch einfacher geworden. Die sogenannten Selfies sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken.
Doch wie genau definiert sich ein Selfie? Mit Blick auf das Smartphone-Spiel Pokémon Go, in dem reale Fotos mit virtuellen Monstern kombiniert werden können, entsteht eine neue Form des Fotografierens.
In diesem Blogeintrag möchten wir das spezifische Bildphänomen des Selfies im Spiel Pokémon Go genauer untersuchen. Hierfür haben wir uns das Bildphänomen des Selfies genauer angeschaut und Nutzer/innen auf verschiedenen Plattformen beobachtet, die im Spiel Fotos von sich selbst und den virtuellen Pokémons in der Augmented Reality angefertigt haben.
Demnach möchten wir uns mit der Frage beschäftigen, wie Spieler/innen von Pokémon Go die technischen Möglichkeiten des Spiels zur Erstellung von Selfies mit virtuellen Pokémon nutzen und welche spezifischen Praktiken hierbei im Vergleich zu herkömmlichen Selfies genutzt werden.
Um den theoretischen Teil und unsere Beobachtungen zu unterstützen, haben wir uns selbst mit der Pokémon Go-App auf die Suche nach den virtuellen Monstern begeben und die verschiedenen Praktiken und Techniken ausprobiert.
Definition des Selfies
Um unsere oben genannte Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst den Begriff des Selfies näher beleuchten und definieren. Im Cambridge Dictionary wird ein Selfie wie folgt beschrieben:
A photograph that you take of yourself, usually with a mobile phone. Selfies are often published using social media.
In dieser kurzen, jedoch präzisen Definition wird deutlich, was ein Selfie an Kriterien erfüllen sollte, um es als solches zu deklarieren. Hierfür ist es von Bedeutung, dass ein Foto in autonomer Eigenregie aufgenommen wird, meist mit ausgestrecktem Arm oder etwa vor einem Spiegel, so Jens Ruchatz. Laut Paul Frosh ist ein Selfie nur als solches zu erkennen, wenn die Betrachtenden genügend sozialisiert damit sind, sprich, sie haben Selfies schon mal gesehen, gemacht oder zumindest von ihnen gehört.
Zu den Praktiken, die nötig sind, um ein Selfie aufzunehmen, gehört also zuerst das Wissen darüber, was ein Selfie ist. Denn die Entscheidung, ein Selfie nach der Aufnahme auch selbst als solches zu betiteln, liegt bei den Fotograf/innen oder den Betrachtenden. Die Praktik des Labelns ist somit unumgänglich zur Erstellung und Rezeption eines Selfies.
Außerdem zählt das Posieren zu einer Praktik, die das Selfie formt. Durch diese Praktik können die Fotograf/innen entscheiden, welche Körperhaltung sie im Selfie einnehmen. Für Selfies ist der ausgestreckte Selfie-Arm ein Indiz dafür, dass das Bild mit der Frontkamera aufgenommen worden ist.
Fotograf/innen ist es zudem möglich, sich selbst durch die Smartphone-Kamera hindurch in einem Spiegel zu betrachten und nach Betrachtung dieses Spiegelbildes die Entscheidung zu treffen, sich durch ein Selfie festzuhalten. Folglich spiegelt sich in Selfies genauso die Bildpraxis des Erstellens wie das abgebildete Selbst. Der Selfie-Arm oder das Handy in der Hand vor dem Spiegel zeigen die Bildpraxis des Selfie-Machens, weil diese Gesten beim Erstellen des Selfies im Bild sichtbar sind.
Abschließend kann also festgehalten werden, dass Selfies Bilder sind, in denen sich die fotografierende Person selbst abbildet. Durch das Einnehmen von Posen, die Wahl von meist von oben gewählten Kamerawinkeln und die Komposition des Hintergrunds macht das Selfie den Betrachtenden klar, um welche Art von Bild es sich handelt.
Analyse am Beispiel von Pokémon Go
Für unsere Analyse haben wir uns dazu entschieden, den Foto- bzw. AR-Modus des Spiels Pokémon Go näher zu betrachten, da es hier möglich ist, virtuelle Wesen in einer realen Umgebung mit Hilfe der Handykamera zu porträtieren. Das erste Beispiel ist das Pokémon Go-Selfie, das nur das Pokémon alleine im Bildausschnitt zeigt. Wir haben uns für dieses Beispiel entschieden, da die vermeintliche Erstellung des Selfies durch das Pokémon selbst eine Besonderheit darstellt. Das Selfie wurde im Jahr 2021 auf der Plattform Reddit hochgeladen.
Das gezeigte Pokémon heißt „Abomasnow“, wie sich aus der Bildüberschrift des Beitrags entnehmen lässt (Abb. 1). Es hat in etwa eine Größe von 2,2 bis 2,7 Meter, was zum Erstellen des Selfies später noch eine wichtige Rolle spielt.
Abb. 1
Aus weiterer Recherche über das Pokémon konnte die Gattung, der das Pokémon angehört, ermittelt werden. Das gezeigte Pokémon ist ein Eisbaum-Pokémon und fügt sich daher besonders gut in die winterliche Umgebung ein.
Das Pokémon nimmt eine typische Selfie-Pose ein. Der Arm ragt aus dem linken Bildrand und erzeugt so den Anschein, als würde es das Handy zur Erstellung des Selfies selbst halten. Da es im Spiel nicht möglich ist, dass das Pokémon selbst ein Selfie anfertigt, bedarf es hierfür einige Tricks. Um diesen Anschein zu erwecken, musste das Pokémon in einer Pose, die es einnehmen kann, aus einem bestimmten Winkel ‚fotografiert‘ werden.
Zur Hintergrundwahl lässt sich sagen, dass diese, ebenso wie die Bildüberschrift, passend zur Gattung des Eisbaum-Pokémon gewählt ist. Demnach befindet sich das weiß-blaue Pokémon auf dem Eis. Dass dem Pokémon weder ein Duckface oder ein Lächeln noch eine andere selfieübliche Mimik anzusehen ist, resultiert aus den begrenzten Möglichkeiten an Posen, die das Pokémon einnehmen kann und dem Zusammenspiel mit den dazugehörigen Bewegungen.
Das Selfie wurde in dem Spiel Pokémon Go durch den AR-Modus erstellt. Dieser ermöglicht das Screenshotten von eingefangenen Pokémon in der eigenen Umgebung, die durch die Kamera auf dem Bildschirm ersichtlich wird. In diesem Modus kann ausschließlich mit der Rück- und nicht mit der Frontkamera gearbeitet werden.
Das untersuchte Selfie wurde von einem/einer Nutzer/in mit erforderlichem Spielfortschritt erstellt. Außerdem ist es notwendig, einen bestimmten Kamerawinkel einzunehmen, der den Arm des Pokémon aus dem Bildrand ragen lässt und gleichzeitig den passenden Hintergrund einfängt.
Reddit-Nutzer/innen haben unter dem hochgeladenen Bild eine mögliche Anleitung zur Erstellung des Selfies geteilt. Demnach muss das Pokémon durch das Antippen in einen Angriffs-Modus schalten, der dann durch das Einnehmen des richtigen Fotowinkels als Selfie-Pose genutzt werden kann. Was auch essentiell für das Erstellen des Selfies ist, ist die Größe des Pokémon, die das Herausragen des Arms über den Bildrand ermöglicht.
Zusammenfassend lässt sich über diese erste Art der Pokémon Go-Selfies sagen, dass sie durch die begrenzten Möglichkeiten, die hinter Praktiken wie dem Posieren stehen, eine besondere Herausforderung darstellen. Hier zeigt sich, dass Spieler/innen kreativ werden müssen, um ein Ergebnis zu erzielen, das von dem gewöhnlichen Spielverlauf abweicht. Denn Pokémon Go bietet keinen Selfie-Modus für Pokémons und dennoch nutzen Spieler/innen die vorgegebenen Möglichkeiten des Spiels, um solche Selfies zu erstellen.
Das zweite Beispiel, das wir analysieren, bietet noch eine andere Perspektive auf die Nutzung des AR-Modus und Pokémon Go-Selfies. In dem Beispiel, das als nächstes untersucht wird, ist neben einem Pokémon noch ein Mensch zu sehen, der das Selfie erstellt.
Abb. 2
Dieses Selfie, das sich in der Machart deutlich von dem ersten Selfie unterscheidet, wurde im April 2023 auf dem öffentlichen Instagram Account @pokemontraineralssahlia geteilt und enthält den Namen des Pokémon in den angelegten Hashtags. Auf dem Account werden seit 2019 Pokémon Go-Selfies dieser Art geteilt, sodass der Account heute schon 456 Beiträge hat (Stand: 12.09.2024).
Ähnlich wie beim ersten vorgestellten Beispiel ist auch in diesem ein Pokémon im Bild zu sehen. Dieses ist gelb und besitzt Flügel, die wolkenähnliche Strukturen aufweisen. Auch dieses Pokémon konnte nach weiterer Recherche in eine Gattung eingegliedert werden. Da es sich um eine fliegende Pokémon-Gattung handelt, fügt es sich besonders gut in den gewählten Himmel-Hintergrund ein.
In diesem Selfie nimmt das Pokémon eine Pose ein. Es fliegt am Himmel und scheint dabei zu lächeln, was bei näherer Betrachtung dem Gesichtsbau des Pokémon und der durchgeführten Bewegung zu Grunde liegt. Die Wangen sind in dem Gesicht sehr präsent und der Ausdruck erscheint freundlich. Die Person im Bild nimmt die typische Selfie-Pose ein, bei der der ausgestreckte Selfie-Arm zu sehen ist (Abb. 2).
Der Kamerawinkel kann durch die nähere Betrachtung des Hintergrundes entschlüsselt werden. Da im unteren Bildrand nur vereinzelt Schilder wahrzunehmen sind und im Rest des Hintergrundes nur Himmel zu sehen ist, lässt sich feststellen, dass das Selfie von unten aufgenommen wurde. Auch wenn der gewählte Winkel zunächst unüblich erscheint, da die meisten zu betrachtenden Selfies eher einen Winkel von oben wählen, weist der am linken Bildrand abgebildete, ausgestreckte Arm auf ein Selfie hin.
Auch hier wird deutlich, dass das Pokémon passend zur äußeren Atmosphäre und dem Hintergrund gewählt wurde. Der Hintergrund und der gewählte Winkel wurden an das Pokémon und dessen Fähigkeiten angepasst.
Ebenso wie im ersten Beispiel wurde auch dieses Selfie im AR-Modus von Pokémon Go erstellt. Das eingefangene Pokémon wurde durch diesen Modus in die reale Umgebung des Nutzers integriert und auf dem Bildschirm sichtbar gemacht, um das Selfie zu schießen.
Da es im AR-Modus allerdings keine Möglichkeit gibt, die Frontkamera zu verwenden, musste der Nutzer vermutlich einen Selbstauslöser verwenden, der in der App Zeiträume von fünf oder zehn Sekunden bietet, um das Foto aufzunehmen. Andernfalls hätte er die Möglichkeit gehabt, die Kamera ‚blind‘ zu bedienen und den Auslöser auf der anderen Seite zu treffen.
Durch diese Nutzung der AR-Funktion zeigt sich das subversive Spielen, indem Spieler/innen die vorgegebenen Möglichkeiten des Spiels umdeuten, um ein Ergebnis zu schaffen, das über die vorgesehenen Möglichkeiten hinausgeht.
Das bedeutet aber auch, dass der Nutzer beim Erstellen des Bildes sich selbst und das Pokémon nicht sehen konnte, was den strengen oder konzentrierten Blick des Nutzers erklären könnte. Das Pokémon Go-Selfies erfordert also einerseits technisches Verständnis und anderseits Geduld. Es wird nicht nur die richtige Platzierung von Person und Pokémon, sondern auch eine präzise Anwendung des Selbstauslösers oder des Umgreifens am Handy gefordert.
Insgesamt zeigt die Analyse der beiden Beispiele, wie Nutzer/innen von Pokémon Go das technische und praktische Verständnis haben, vielseitige Selfies im Spiel zu erstellen.
Spiel-Selfies im Selbstversuch
Aufbauend auf den zuvor gefassten Erkenntnissen, wurden zu den beiden Arten von Pokémon Go-Selfies jeweils eigene Bildbeispiele erstellt. Ziel der Erstellung war es, die Praktiken, die hinter den Pokémon Go-Selfies stecken, näher zu betrachten und besser zu verstehen.
befindet sich dann ein Kamerasymbol, das nach Aktivierung den AR-Modus öffnet. In diesem Modus erscheinen Fußabdrücke auf einer horizontalen Oberfläche, sodass das Pokémon darauf platziert werden kann.
Das platzierte Pokémon kann nun durch das Antippen auf dem Bildschirm in Bewegung gebracht werden. Die untersuchten Pokémon konnten jeweils drei Bewegungen ausführen. Nach dem Anschauen der Bewegungsmöglichkeiten musste also eine dieser ausgesucht werden, um sie für die Erstellung eines Selfies mit oder ohne Person auszuwählen.
Wichtig dabei war vor allem der richtige Moment, in dem das Pokémon die richtige Pose für ein Selfie einnimmt. Da diese Pose in der Bewegung entsteht, muss das Selfie schnell erstellt werden, um die ausgewählte Pose festzuhalten. (Abb. 3).
Abb. 3
Da die Bewegungen der Pokémon nur kurz andauern, kann ein Pokémon, das eine Pose durch eine Bewegung einnimmt, nur dann zusammen mit einer Person fotografiert werden, wenn das Bild entweder von einer weiteren Person erstellt wird oder das Pokémon keine besondere Pose einnimmt (Abb. 4).
Abb. 4
Des Weiteren ist aufgefallen, dass das Finden und Einnehmen des richtigen Winkels ausschlaggebend für ein gelungenes Selfie sind. In unseren eigenen Beispielen ist das sehr aufgefallen, da in einer Reihe von erstellten Bildern nur einige wenige wirklich Ähnlichkeit mit einem Selfie aufgezeigt haben. Diese Ähnlichkeiten waren zum Beispiel der Selfie-Arm eines Pokémon, der sich nicht in allen Bildern als Selfie-Arm erkennen ließ.
Zum Erstellen von Pokémon Go-Selfies gehört neben den eben aufgezählten Praktiken auch das Aussortieren von Bildern, die keine Ähnlichkeiten zu Selfies aufweisen. Das fertige Pokémon Go-Selfie entsteht also nach eigener Erfahrung aus der Erstellung sehr vieler unterschiedlicher Bilder und der anschließenden Selektion. Außerdem können Praktiken wie das Nachbearbeiten der Selfies verwendet werden, um Positionen im Bild nachträglich anzupassen oder unpassende Posen, die durch die Bewegungen der Pokémon entstanden sind, herauszuschneiden.
Wir möchten abschließend eine kleine Zusammenfassung unserer Beobachtungen darlegen: Um in dem Spiel Pokémon Go ein authentisches Selfie zu machen, ist sicherlich ein wenig mehr Aufwand als bei der herkömmlichen Erstellung notwendig. Es bedarf mehr Vorbereitung, da das Pokémon zunächst im Bild platziert werden muss, der Foto-Modus nur über die App selbst im AR-Modus funktioniert und auch nur die Rückkamera des Smartphones verwendet werden kann, sodass man sich selbst nicht sieht.
Eine Lösung, die wir hierfür finden konnten und ausprobiert haben, ist das Spiegelselfie. Hier kann die Rückkamera zur Erstellung eines Pokémon Go-Selfies genutzt werden. (Abb. 5) Die einzige Herausforderung dabei ist das Platzieren der Pokémon vor einem Spiegel und das Einfangen von gewünschten Posen. Da die Funktion nur mit bereits gefangenen Pokémon erfolgen kann, können diese aber in Nähe eines Spiegels platziert werden.
Diese Praktik ähnelt sehr der Erstellung von Pokémon Go-Selfies, auf denen nur Pokémon zu sehen sind, da Ersteller/innen die Pokémon durch den Bildschirm sehen können, während die Positionierung gewählt wird.
Abb. 5
Auf den ersten Blick wirken die Bilder von den Pokémon erstmal wie Selfies, da sie so aussehen, als würde das Pokémon die Kamera halten, praktisch ist dies jedoch nicht umsetzbar. Zwar entspricht die Pose und auch der Kamerawinkel den Bildpraktiken des Selfies, das Pokémon wird aber letztendlich nur im richtigen Moment ‚fotografiert‘ bzw. inszeniert. Sicherlich werden anschließend einige Bilder noch zugeschnitten und nachbearbeitet, um diese wie ein Selfie aussehen zu lassen. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Möglichkeiten der Pokémon im AR-Modus begrenzt sind. So sind die Posen stets dieselben, lediglich die Umgebungen können hier variieren. Die technischen Möglichkeiten des AR-Modus werden von den Nutzer/innen somit geschickt ausgenutzt, um ‚Selfies‘ von Pokémons erstellen zu können.
Abschließend können wir nach unseren Beobachtungen und auch eigenen Versuchen sagen, dass es einige Möglichkeiten gibt, ein Selfie im Spiel zu erstellen. Auch wenn die Erstellung nur durch ein paar Tricks gelingen kann und, wie bereits beschrieben, mehr Aufwand bedarf, als ein Selfie von sich selbst zu erstellen, so erhält man am Ende doch ein Ergebnis, das dem Selfie ähnelt. Was letztendlich zählt, sind die fertiggestellten Bilder, die in den Sozialen Medien als ‚Selfie‘ bezeichnet werden und ähnliche Bildpraktiken zu erkennen geben.
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