Die ganze Welt durch die Brille gesehen. Ein Kommentar zum angekündigten Sehgerät „Apple Vision Pro“
Inzwischen scheinen es alle zu wissen: Apple hat jetzt auch ein digitales Sehgerät, ein Headset für virtuelle Visionen auf den Markt gebracht. Am 5. Juni wurde das neue Produkt vorgestellt, lanciert. Inzwischen sind die Kommentare zahlreich, erste Tests konnten durch ausgewählte Tech-Journalisten gemacht werden (Vgl. z.B. hier mit Resümees). Die Neugier ist groß, und vielleicht ist es tatsächlich einmal mehr eine entscheidende Umgestaltung eines Gerätes, das es in Grundzügen schon länger gibt – entscheidend deshalb, weil einige zentrale Aspekte neu umgesetzt sind. Das Wording zur Beschreibung dieses Geräts ist sprechend: Auf der deutschen Wikipedia (Stand 19.6.2023) ist zwar die Rede von einem „Virtual Reality Headset“. Das aber trifft den entscheidenden Punkt nicht, denn dieses Gerät ist keine VR-Brille, allenfalls ein „Mixed Reality Headset“ oder „Augmented Reality Headset“. Apple lässt sich auf dergleichen vorgeprägte Begriffe nicht ein, sondern setzt einfach einen – seinen – Namen dafür: „Apple Vision Pro“.
Diese Namensgebung ist von elementarer Bedeutung. Sie signalisiert Abgrenzung: Apple Vision Pro ist eben keine digitale Taucherbrille, die uns visuell in eine virtuelle, also fingierte Realität eintauchen lässt, sondern ein Sichtgerät, das in der realen Welt verbleibt, eine physische Eigenpräsenz hat und behält, das wie alle Apple-Geräte auch als Bestandteil dieser einen physischen Welt gestaltet ist, also ästhetisch und haptisch ansprechend, für Menschen, die sich ihrer physischen Sinne bewusst sind, die sich in der realen Welt wohl fühlen und sich dort weiterhin aufhalten wollen. Genau das zu leisten verspricht das Gerät in dem Werbevideo: Es sollen zwei reale Welten, die physisch-haptische und die digitale Welt, miteinander verbunden werden und zwar „seamlessly“, ohne Nahtstelle, weil es nämlich keine gibt.
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 11.6.2023 kommentiert Alexander Wulfers dieses Ereignis in den Spalten der Rubrik „Wirtschaft“ unter der Überschrift „Apple beerdigt das Metaverse“. Was zunächst erstaunlich scheint, ist tatsächlich nachvollziehbar und einleuchtend. Es ist gemeint, dass das Projekt der Konstruktion von digitalen Parallelwelten, in denen sich Menschen in der Zukunft aufhalten können sollen, beiseite geschoben, wenn nicht gar zu den Akten gelegt wird. Wulfers stellt diese Tendenz bei mehreren Wirtschaftsunternehmen fest – und nun auch bei Apple. In Zukunft gehe es also nicht mehr um das „Metaverse“, sondern eben um die Verbindung und Integration von Realität und digitaler Sphäre: „Apple setzt darauf, dass Menschen nicht völlig in die virtuelle Realität abtauchen, sondern weiterhin mit ihrer Umwelt interagieren wollen.“
Muss uns das überraschen? Vielleicht mehr als die Herolde einer neuen, bunten digitalen Totalwelt, in der alles, aber auch alles sich abspielen könnte. Im Unterschied zu ihnen hat die Computerindustrie niemals vergessen, dass sie Produkte für reale Menschen herstellen und reales Geld verdienen wollen. Das aber lässt sich nur verwirklichen, indem man auf dem Boden der Realität bleibt. Der FAS-Journalist aber möchte vielmehr feststellen können, dass es zu einer „graduellen Weiterentwicklung des Internets“ gekommen sei, die dafür sorge, dass man wieder „die Menschen bei ihren Bedürfnissen abholt“. Was aber sind diese Bedürfnisse, wie entstehen sie? Gibt es etwa, wie die Formulierung suggeriert, echte und unechte oder eben virtuelle Bedürfnisse, die also gar keine wären? Man kann auch anders argumentieren und sagen, dass Bedürfnisse, abgesehen von den elementarsten (Essen, Trinken, Atmen, etc. …), meistens doch ziemlich virtueller Art sind, sie gründen in Vorstellungen, Wünschen, oftmals werden sie sogar von Maschinen erzeugt, von Apparaten (Apple!), den „Medien“, von der „Werbung“. Es ist also nicht so ganz einfach, reale Bedürfnisse von anderen zu unterscheiden, oder überhaupt das Virtuelle vom Realen.
Sicher ist jedoch Folgendes: Es gibt immer schon eine Sphäre, in der sich Virtuelles (Fiktives) und Reales (physische Natur) verbinden. Wie soll man diese Sphäre nennen? Es ist natürlich der Raum der „Kunst“; wenn man aber diese anspruchsvolle Kategorie vermeiden und etwas schlichter sein möchte, dann ist es die Sphäre des „Bildes“.
Hier liegt das Gewicht, die Relevanz einer vertieften Auseinandersetzung, wie sie im DFG-Schwerpunktprogramm „Das digitale Bild“ versucht wird. Die Sphäre des Bildes ist immer schon jener Bereich, in dem visuell und oft auch räumlich eine Zwischenwelt gestaltet wird, in der sich Vorstellung und Wirklichkeit verbinden, in der, anders gesagt, die sichtbare Welt als sichtbare Gestaltung begriffen wird. Die Frage sei hier erlaubt: Ist die Sphäre des Bildes – im eigentlichen Sinn des Begriffs – nicht schon immer eine „mixed reality“, tendenziell eine „augmented reality“, in der wir Aspekte (buchstäblich) der natürlichen Wirklichkeit angereichert mit Vorstellungen eines Urhebers, einer Urheberin des Bildes sehen können? Das Bild wäre gemäß dieser Auffassung eine Form der Gestaltung, die diese Liminalität immer schon beinhaltet.
Solche Bemerkungen würden für alle Bilder, vor allem jene traditioneller (analoger) Art gelten. Wie aber fügt sich hier nun Apples Vision Pro an? Die neue Brille zeigt auch nichts anderes als ein Bild unserer Welt, ein digital generiertes, natürlich, aber keine virtuelle Welt. Dieses Bild ist ein digitales Konstrukt, das durch den Träger, die Trägerin der Brille belebt wird, es zeigt sich eine kontinuierliche, dem Takt der Betrachtenden sich anpassende digitale Repräsentation der jeweiligen Welt. Diese gelingende Anpassung an die jeweilige Trägerperson, an deren „Bedürfnisse“, lässt das Bild als „Realität“ wirken und nicht als reine Fiktion; und es bleibt doch ein Bild, denn die Person kann jederzeit dieses Bild gestalten. So lautet der Text des Werbevideos denn auch: „It looks, sounds, and feels like they are physically there”; “It’s like magic”; “You’r not isolated from other people”; “Apps live in your space”; “Your photos can be life-size or any size”; “Your living room becomes a gallery”; “Panoramas wrap around you”.
Faszinierend aber schließlich die Ansage, dass man sich eben nicht nur zum Vergnügen in diese digital-reale Welt begeben soll, sondern um dort zu arbeiten: „Create a perfect work space“. In dieser neuen Arbeitsumgebung tritt das Web noch näher und umfassender an uns heran: „The web comes to life at fantastic scale“; „Browsing the internet feels new“; „Text is crisp and easy to read“ – und als Fazit: “And you control just how immersed you want to be.”
Hier ist es wieder, das Stichwort der Selbstkontrolle. Hier drängt eine latente Sorge an die Oberfläche. Wir wollen nicht im digitalen Orbit (oder Nirwana) verloren gehen. Menschen wollen, auch wenn sie partiell in diese digitale (Bild-)Realität abtauchen, für ihre Umwelt nicht verloren gehen, nicht verschwinden. Wir wollen im Kino sitzen und doch zugleich in unserer Welt bleiben, unsere physische Welt nicht verlieren. Die Apple Vision Pro hat für diese Urangst des Weltverlusts, diesen digitalen Solipsismus, eine überraschende und faszinierende Lösung bereit: Die Brille gestaltet unser Bild live mit. Wenn wir Apple Vision Pro tragen, sehen wir ein Bild der Welt, die uns umgibt; aber die uns umgebenden Menschen sehen uns auch – nicht die blinde Scheibe der Brille, sondern ein digital generiertes Bild unserer Augen („EyeSight“); was hier zum Einsatz kommt, ist keine Kamera. Das Bild der Augen ist eine digital erzeugte Repräsentation unserer Augen. Wenn wir beispielsweise an einer Videokonferenz teilnehmen, müsste eigentlich unsere Webcam unser durch die Apple-Brille maskiertes, entstelltes Gesicht sehen. Das ist nicht der Fall, denn das Gerät erzeugt auf seiner der Außenwelt zugewandten Bildschirmvorderseite ein Bild unseres Gesichts ohne Brille, eine „digital persona“. So wird die Brille auf ganz neue Weise zur Maske, zur Verkleidung.
Was hier zum Einsatz kommt, ist laut Apple-Werbetext „machine learning“ – der Ausdruck „artificial intelligence“, KI wird also vermieden, absichtlich, so darf man annehmen, um den Eindruck zu vermeiden, dass hier etwas gefälscht oder vorgetäuscht werde. Aber gerade das kann man sich gut vorstellen: Der nächste Schritt wäre die Integration von künstlicher (künstlerischer?) Intelligenz in die aktive Gestaltung unseres (virtuellen) Auftritts auf der Bühne dieser Zwischenwelt des digital generierten Bildes: live und in Farbe; nicht so, wie man ist, sondern wie man sein möchte. Und werden wir uns bald auch schon in einem gemeinsamen Raum treffen, die einen wirklich präsent (mit Brille), die anderen digital importiert? Dann würde zutreffen, was Apple behauptet; „The era of spatial computing is here“ – und wir oder unsere Avatare bevölkerten diese Welt zusammen mit Unseresgleichen, und die Grenzen zwischen physischer und digitaler Welt würden dann doch verschwimmen…
Ist das eine angenehme oder eine gruselige Vorstellung? Es mag in beiderlei Richtung gehen. Das liegt in der Natur des Bildes, jedes Bildes und vor allem unserer zutiefst menschlichen Befähigung, freiwillig, dann aber auch spontan die Bildwelt für die Realität zu nehmen.
Hier geht es zum Promovideo!
Schreibe einen Kommentar