Bericht zum Workshop „Das digitale Bild zwischen medienwissenschaftlicher und ethnographischer Perspektive“

Bericht zum Workshop „Das digitale Bild zwischen medienwissenschaftlicher und ethnographischer Perspektive“

Am 09. und 10. Dezember 2021 tauschten sich die beiden SPP-Projekte „Curating Digital Images“ und „Bildförmige Bildkritik in Sozialen Medien“ in einem gemeinsamen Workshop über die Medienpraktiken des digitalen Bildes aus.

An dem Workshop, der pandemiebedingt in Zoom stattfinden musste, nahmen Christoph Bareither, Sarah Ullrich, Katharina Geis sowie Jens Ruchatz und Kevin Pauliks teil. Ziel der beiden Projekte war es, theoretische und methodologische Schnittmengen zwischen der Ethnographie und der Medienphilosophie zu identifizieren.

Christoph Bareither, Sarah Ullrich, Katharina Geis, Jens Ruchatz und Kevin Pauliks in Zoom auf dem Workshop
Christoph Bareither, Sarah Ullrich, Katharina Geis, Jens Ruchatz und Kevin Pauliks in Zoom (v.l.n.r.)

Am ersten Tag verständigten sich die beiden Projekte über die theoretischen Dimensionen digitaler Bildpraxis. Dazu haben Bareither, Geis und Ullrich das Affordanzkonzept vorgestellt, mit dem sie in ihrem Projekt „Curating Digital Images“ arbeiten.

Affordanzen sind als eine relationale Vermittlung zwischen Materialität und Praxis zu verstehen. Technologien fordern zu bestimmten Verhaltensweisen auf, schränken diese aber auch ein. Praktiken können wiederum den Umgang mit Technologien verändern und neue Affordanzen hervorbringen. In einer Case Study von Bareither affordiert das Schießen eines Selfies beispielsweise ein routiniertes Lächeln auf dem Gesicht eines Akteurs, der in Anbetracht des Holocaust-Mahnmals seinen Gesichtsausdruck jedoch schnell zu einem ernsthafteren anpasst.

Medienwissenschaftlich erinnert das an die Macht der Dispositive, deren räumlich-medialen Anordnungen Rezipierende ausgesetzt sind (z. B. einem dunklen Kinosaal, der die Aufmerksamkeit auf die Leinwand lenkt). Solchen Wahrnehmungsdispositiven nähern sich Bareither, Geis und Ullrich im Museum, indem sie über Eye-Tracking-Studien versuchen, das Sehen selbst als Praxis zu verstehen, die das Kuratieren erst ermöglicht. So sollen die – auch medienwissenschaftlich – untererforschten Sehgewohnheiten medial-musealer Räume entschlüsselt werden.

Ruchatz und Pauliks haben die medienphilosophische Prämisse ihres Projekts präsentiert. Das Projekt „Bildförmige Bildkritik in Sozialen Medien“ möchte herausfinden, was das digitale Bild über sich selbst weiß, insbesondere über die Medienpraktiken, die es in den Sozialen Medien annimmt. Dazu untersuchen Ruchatz und Pauliks die bildkritischen Medienpraktiken, die in den digitalen Bildern materialisiert sind.

Diskutiert wurde dazu eine Case Study über Insta Repeat, die im International Journal for Digital Art History erschienen ist. Dort untersuchen Ruchatz und Pauliks, wie Reisefotografien auf Instagram kuratiert werden, um bildförmig ihre Ähnlichkeit zu kritisieren.

Bareither gab zu bedenken, ob es ausreichen kann, nur die Spuren der Praktiken zu untersuchen, die im digitalen Bild anwesend sind – im Fall von Insta Repeat sind das die Medienpraktiken der Künstlerin Emma Sheffer – oder, ob medienphilosophisch gedacht das digitale Bild nicht selbst als Praxis verstanden werden muss, das nicht nur Kuratierung, sondern das Kuratieren selbst ist. Immerhin befragen Ruchatz und Pauliks nicht die Künstlerin zu ihrer Praxis, sondern die digitalen Bilder, die die Praktiken des Kuratierens materialisieren.

Eine ähnliche Idee verfolgt Bareither in einem Text, der im Routledge Companion to Media Anthropology erscheinen wird. In dem Text, der ebenfalls auf dem Workshop diskutiert wurde, begreift Bareither „content-as-practice“. Das meint, das digitale Inhalte auch ohne die User in den Sozialen Medien als Praktiken ‚weiterleben‘ und ethnographische Forschung dementsprechend auch digitale Bilder als routinierte Praktiken in den Blick nehmen kann.

Solche methodischen und methodologischen Fragestellungen wurden am zweiten Tag des Workshops weiter vertieft. Die beiden Projekte haben sich gegenseitig Case Studies präsentiert und Einblicke in ihre Projektdatenbanken gewährt.

Bareither, Geis und Ullrich zeigten, wie sie mit Hilfe von MAXQDA Interviews und Bilder codieren. Die Codierung richtet sich nach der Grounded Theory, profitiert aber auch von deren ethnographischen Erweiterungen. Das Team entwickelt Codes induktiv aus dem Feld heraus, meistens schon während der Phase der teilnehmenden Beobachtungen und Interviews. Ethnographisch entscheidend ist es, über die Codes eine dichte Beschreibung anfertigen zu können, z. B. über ästhetische Bildpraktiken, die gewissermaßen eine Geschichte über die Praktiken der Akteurinnen und Akteure erzählen.

Beim Codieren von Bildern entsteht jedoch das methodische Problem, dass sie erst interpretiert werden müssen, bevor sie codiert werden können. Codes können nicht – wie bei einem Interview – direkt aus den Bildern gezogen werden, sondern müssen zunächst versprachlicht werden. Hierfür braucht die Ethnographie neue Ansätze, die es möglich machen, „content-as-practice“ oder Bilder als „materialized practice“ zu verstehen.

Es war interessant zu sehen, dass Ruchatz und Pauliks ihre aufgenommen Screenshots von den bildkritischen Bildphänomen auf eine ähnliche Art und Weise codieren wie Bareither, Geis und Ullrich, obwohl dem Projekt mit der Bildpraxisanalyse eine medienwissenschaftliche Methodik zugrunde liegt.

Ruchatz und Pauliks nutzen zum Codieren der Screenshots die Wissensdatenbank lexiCan, die – wie auch viele Social-Media-Plattformen – das Taggen von Bildern ermöglicht. Ziel der Codierung durch die Tags ist es, die in den digitalen Bildern enthaltenen – und oftmals explizit reflektierten oder zumindest implizit thematisierten – kritischen Medienpraktiken zu erfassen. Das haben Ruchatz und Pauliks anhand der Case Study zu Trump in Peach exemplarisch demonstriert.

Präsentation der Case Study zu Trump in Peach auf dem Workshop
Präsentation der Case Study zu Trump in Peach

Während Bareither, Geis und Ullrich ihre Codes sowohl aus digitalen Bildern (bspw. auf Social Media) und aus anderen ethnografischen Daten wie Interviews und Feldnotizen herausarbeiten, generieren Ruchatz und Pauliks ihre Codes allein aus den Bildern. Im Projekt „Curating Digital Images“ geht es folglich stärker um die Praktiken der Akteurinnen und Akteure, wie sie mit dem digitalen Bild umgehen und welche Affordanzen das digitale Bild in diese Umgangsweisen einbringt.

Im Projekt „Bildförmige Bildkritik in Sozialen Medien“ geht es hingegen stärker darum, wie das digitale Bild selbst geformte Medienpraxis ist, die Medienpraktiken formt. Nach diesem Verständnis ist das digitale Bild die Medienpraxis des Bearbeitens, Kuratierens, Filterns, Imitierens usw. usf.

Der Workshop hat gezeigt, dass es zwischen ethnographischer und medienwissenschaftlicher Forschung viele spannende Schnitt- und Problemstellen gibt, die sich lohnen, zukünftig noch weiter vertieft zu werden. Dazu haben zwei kurze Tage nicht ausgereicht. Der Dialog wird im SPP und darüber hinaus weitergeführt.